Griechenland stimmt für Brüssel-Deal:Wieso Alexis Tsipras in der Zwickmühle steckt

Tsipras Griechenland Krise

38 Syriza-Abgeordnete versagten ihm die Gefolgschaft.

(Foto: REUTERS)

Das griechische Parlament beschließt die ersten Reformgesetze. Doch am Ende eines Marathon-Tages zeigen die Syriza-Widersacher Premier Tsipras ihre Unberechenbarkeit.

Report von Matthias Kolb, Athen

Die Ansage nach dem Brüsseler Gipfel war eindeutig: Bis Mittwoch um Mitternacht muss das griechische Parlament vier Reformgesetze verabschieden, damit ein drittes Rettungspaket für Athen zustande kommen kann. Sie haben geliefert: Am frühen Donnerstagmorgen stimmten 229 der 299 anwesenden Abgeordneten für das Reformpaket. Doch in der so wichtigen Debatte bleibt ein Stuhl lange leer: der von Premier Alexis Tsipras.

Während also Finanzminister Euklid Tsakalotos das ebenso umstrittene wie detaillierte Programm verteidigt, wird in griechischen Wohnzimmern und im Internet unter #WhereisTsipras über den Grund für die Abwesenheit des 40-Jährigen debattiert. Er habe durch seine Anwesenheit nicht provozieren wollen, lautet eine Theorie.

Unter Journalisten kursiert auch das Gerücht, Tsipras verhandle bis zuletzt mit Panagiotis Lafazanis, dem Chef der "Radikalen Linken" innerhalb Syrizas, um die Zahl der parteiinternen Gegner zu verringern. Doch der Premier ist gescheitert: Der Energieminister Lafazanis als einer von 32 Syriza-Abgeordneten mit "Nein"; sechs weitere enthalten sich.

Während der Parlamentsdebatte kommt es in Athen zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Zunächst ist alles friedlich, dann beginnt eine kleine Gruppe, Brandsätze auf Polizisten zu werfen, die mit Tränengas antworten. Etwa 30 Menschen werden festgenommen.

Nur die Opposition sichert Tsipras die Mehrheit

Dass ihm 38 Abgeordnete der eigenen Partei nicht gefolgt sind, ist eine Schlappe für den Premier. Wie es nun weitergeht, weiß niemand: Wirft Tsipras die zwei Minister raus, die ihn düpiert haben? Tritt er zurück - oder stellt dieses in Aussicht, falls er noch mal auf die Stimmen der Opposition angewiesen ist? Den ganzen Tag ist zu spüren, wie zerrissen Syriza ist. Die Identität und auch der große Erfolg der Partei, die eher ein Bündnis diverser linker Gruppen ist, basierte lange auf der strikten Ablehnung der Austeritätspolitik. Nun muss die Regierung genau dies umsetzen - und mehr als drei Dutzend Parlamentarier machen da nicht mit.

Fakt ist: Die Mehrheit für jene Reformen, welche die Grundlagen für ein Drei-Jahres-Programm im Umfang von mindestens 80 Milliarden Euro legen sollen, wird nur durch die Stimmen der Konservativen, der liberalen Potami-Partei sowie der Sozialdemokraten von Pasok gesichert. Deren Zustimmung sollte vor allem den Verbleib Athens in der Euro-Zone sichern.

Pasok-Chefin Fofi Gennimata bringt es auf den Punkt: Dieses dritte Memorandum sei das schlimmste und brutalste Sparpaket - und schuld sei Tsipras' Unfähigkeit. Ihr "Ja" sei aber kein Vertrauensbeweis für die Regierung: "Unser Votum zeigt nur unser Vertrauen in Griechenland." Überzeugt ist niemand von dem Brüsseler Diktat: Nur die Vernunft rät zur Zustimmung.

Tsipras: Merkel und Schäube wollen Sturz meiner Regierung

Ob das Vertrauen der Politiker der anderen EU-Staaten in die Athener Regierung durch die Debatte gewachsen ist, bleibt abzuwarten. Tsipras selbst, der wie immer ohne Krawatte auftritt, wiederholt die Argumente der vergangenen Tage: Er selbst glaube nicht an das Reformpaket, das er nur unterschrieben habe, weil die wirtschaftliche Lage ihm keine Alternative gegeben habe. Die Rückkehr zur Drachme hätte gerade für sozial Schwache noch schlimmere Folgen.

Den griechischen Konservativen wirft er kampfeslustig vor, mit Kanzlerin Angela Merkel und Wolfgang Schäuble nur am Sturz seiner Regierung interessiert zu sein. Der deutsche Finanzminister ist in Griechenland zur Hassfigur geworden - kein ausländischer Politiker-Name fällt annähernd so häufig an diesem Tag.

Tsipras spricht auch über ein anderes Thema in Bezug auf Deutschland: Oft werde in der EU über Zusammenhalt geredet, doch für Athen seien neue Kredite "das einzige Zeichen der Solidarität" gewesen. Dabei habe es in Europas Geschichte "Momente mit größerer Solidarität" gegeben: Nämlich als Griechenland und andere Deutschland 1953 seine Schulden erlassen hätten. Immer wieder wird Tsipras' Rede von Applaus unterbrochen - viele Sympathien genießt er weiterhin.

Parlamentspräsidentin spricht von "sozialem Völkermord"

Die außergewöhnlichste Rede in der Debatte hält Zoe Konstantopoulou, die umstrittene Parlamentspräsidentin. Auch sie lehnt den Reform-Deal, den sie als Eingriff in die griechische Souveränität betrachtet, kategorisch ab. Konstantopoulou gilt als eine "gefährliche Gegenspielerin" zu Tsipras, den sie trotzdem zu Beginn der Syriza-Fraktionssitzung freundlich mit Küsschen begrüßte - manch ein griechischer Twitter-Nutzer fühlte sich an einen "Judaskuss" erinnert.

In ihrer Rede schimpft sie vehement gegen die neuen Sparauflagen, die katastrophale Folgen haben werden. Sie spricht von "sozialem Genozid" in Hellas und erinnert daran, dass jedes Baby in Griechenland mit 32 000 Euro Schulden zur Welt komme. Über die Geldgeber, die ja eigentlich Partner sein sollen, sagt Konstantopoulou: "Sie wollen uns so weit erniedrigen, dass wir uns selbst nicht mehr erkennen werden." Sie gesteht Tsipras zu, dass dieser getan habe, was er konnte. Doch nun demontiere er sich selbstlos selbst, weil er glaube, dass er so die Leute rette.

Konstantopoulou hatte gehörigen Anteil daran, dass dieser Tag im prachtvollen Parlamentsgebäude in Athen bis zwei Uhr morgens dauerte. Sie hatte mit formalen Argumenten am frühen Abend den Beginn der Debatte um mehr als zwei Stunden verzögert, und so Abgeordnete und Journalisten zum Warten und Herumlungern in der Cafeteria verdonnert. Begonnen hat der Tag bereits um zehn Uhr mit Beratungen in drei Ausschüssen.

In dieser Aussprache hatte etwa Ex-Finanzminister Varoufakis die Einigung erneut als "neuen Versailler Vertrag" bezeichnet. Haris Theoharis von der liberalen Potami-Partei kommentierte die in seinen Augen verheerende wirtschaftliche Bilanz der Regierung so: "In einigen Jahren werden Studenten eine Doktorarbeit darüber schreiben, wie wir Griechen es 2015 geschafft haben, uns erst in den Kopf zu schießen und dann um Behinderten-Unterstützung zu bitten."

"In diesen Tagen redet jeder zu viel"

Doch von Beginn an besteht der stärkste Diskussionsbedarf innerhalb der größten Fraktion: jener von Syriza. Ihre Mitglieder sehen sich als Anti-Austeritäts-Partei und nun müssen die Parlamentarier, die das Sparen beenden wollten, nun im Schnelldurchgang Steuererhöhungen und indirekte Rentenkürzungen beschließen. Am Mittag hatte Vize-Finanzministerin Niki Valavani ihren Rücktritt eingereicht und dies in einem Brief an Tsipras mit "Alexis, ich kann nicht mehr weitermachen" begründet.

"In diesen Tagen redet jeder zu viel", seufzt ein Syriza-Abgeordneter, als er am Nachmittag den Sitzungssaal der Fraktion verlässt und von Reportern bestürmt wird. Es stimmt, Gerüchte schwirren durch die Luft, es wird geraunt, gelästert und herumorakelt. Alle spüren, dass die Partei vor der Zerreißprobe steht. Drei Stunden lang debattieren die 149 Parlamentarier im ersten Stock des Parlaments im Herzen von Athen - und ebenso lang kämpft Alexis Tsipras für seine Position.

Zu Beginn der Sitzung und auch am Ende werden die Reden des 40-Jährigen mit Applaus bedacht, doch 38 Abgeordnete kann er nicht für sich gewinnen. Seine Argumentation, wonach ihn die humanitäre Krise zur Zustimmung gezwungen habe und dass ein Grexit alles schlimmer machen würde, überzeugt auch Stathis Leutsakos nicht.

Der Abgeordnete aus Piräus ist einflussreich bei der "Linken Plattform" und auch er wird später am Abend "ochi" sagen und ablehnen. Am Nachmittag jedoch schimpft er über die "angeblichen Partner, die in Wahrheit Finanzmörder" seien und zieht währenddessen hastig an seiner Zigarette. Er könne der Brüsseler Einigung nicht zustimmen, da diese auf "Erpressung" basiert und der Tsipras-Regierung aufgezwungen wurde, sagt der kleine Mann mit dem grauen Schnauzbart.

Syriza will Opposition und Regierung zugleich sein

Doch mit Alexis Tsipras, dem Hoffnungsträger der Linken, will er nicht brechen. "Die Einigkeit von Syriza ist ganz wichtig und sie ist garantiert", meint Leutsakos. Wie Tsipras aber auf Dauer regieren soll, wenn ihm die eigene Koalition nicht die Mehrheit sichert, das kann er nicht erklären. Womöglich versucht Tsipras etwas, das die CSU in Bayern perfektioniert hat: Gleichzeitig Regierungs- und Oppositionspartei zu sein.

Da er die Abweichler nicht zum Rücktritt zwingen will, scheint er bereit zu sein, innerhalb von Syriza die beiden Lager "koexistieren" zu lassen. Er hat sich das Reformpaket mithilfe der Opposition vom Parlament bewilligen lassen und kann zugleich argumentieren, die Linke nicht gespalten zu haben. Offen bleibt, wie lange die proeuropäische Opposition die nötigen Stimmen liefert, wenn ein Teil von Syriza sich als "prinzipientreue" und austeritätskritische Linke profiliert.

An dieser sehr zerbrechlichen Konstellation scheint auch Panagiotis Lafazanis, der Chef der radikalen "Linken Plattform" innerhalb Syrizas, Gefallen zu haben. Er will die Drachme wieder einführen und hatte noch vor wenigen Tagen vorgeschlagen, die Zentralbank zu kapern und lässt sich auch an diesem Tag nicht von Tsipras zur Vernunft bringen. Nach seinem "Nein" sagte er laut Zeit Online zu Journalisten: "Natürlich unterstütze ich die Regierung noch, ich unterstütze sie mehr als die Abgeordneten der Oppositon, die mit Ja gestimmt haben. Wenn es eine Vertrauensfrage geben sollte, würde ich die auch mit Ja beantworten."

Im Gegensatz zu vielen Experten denkt Lafazanis auch nicht an Neuwahlen - zumindest nicht öffentlich. Umfragen zufolge würde Alexis Tsipras in diesem Fall wieder Premierminister werden, doch die Griechen würden weitere Zeit verlieren, um ihr Land wettbewerbsfähig zu machen.

Auch wenn nach diesem Marathon-Tag im Athener Parlament offen ist, wie es nun in der griechischen Innenpolitik weitergehen wird, stehen andere Termine fest: Die Finanzminister der Euro-Zone wollen an diesem Vormittag eine Telefonkonferenz abhalten und am Freitag stimmt der Bundestag ab. Dort wird die Debatte aller Voraussicht nach nicht so lange dauern und auch die Koalition wird ihre Mehrheit bekommen. Doch zerrissen könnte sich auch der eine oder andere Abgeordnete im Bundestag ebenfalls fühlen.

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