Auf die lange Nacht folgte der kurze Prozess. In einem großen Teil der öffentlichen Meinung Europas und der Welt wurde das Urteil gefällt, deutsche Härte habe Griechenland in die Knie gezwungen. Karikaturen, Wortmeldungen auf Twitter und Kommentare geißelten die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel und insbesondere Finanzminister Wolfgang Schäuble. Ein faires Bild von der dramatischen Verhandlung gebe das nicht wirklich wieder, finden in Brüssel jene, die ziemlich nah dran gewesen sind. Es blende die Volten der griechischen Führung der vergangenen Wochen ebenso aus wie die Berliner Bereitschaft, noch einmal viele Milliarden in die Hand zu nehmen. Überdies habe Merkel der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass einige ihrer Kollegen, der niederländische Premierminister Mark Rutte etwa, eine noch härtere Linie verfolgt hätten.
Vor allem aber: Merkel und Tsipras standen unter demselben Druck, vor der eigenen Bevölkerung nicht als Verlierer dazustehen. So ging es in Raum 80.1 des Justus-Lipsius-Gebäudes, in dem EU-Ratspräsident Donald Tusk, Frankreichs Präsident François Hollande, Merkel sowie Tsipras, assistiert durch seinen Finanzminister Euklid Tsakalotos, stundenlang nach Kompromissen suchten, angesichts des finanziellen Abgrunds in Athen zuletzt nicht mehr ums Grundsätzliche, sondern nur noch ums Symbolische: etwa die Verwendung der vermutlich ohnehin virtuellen 50 Milliarden Euro des von Merkel durchgesetzten Privatisierungsfonds.
Im jetzigen Zustand funktioniert die Währungsunion nicht
Die Lösung brachte schließlich eine SMS des Niederländers Rutte an Tusk. Er übermittelte darin ein Angebot des Hardliner-Lagers: 12,5 Milliarden des Fonds könnten für Investitionen eingesetzt werden. Darauf ließen sich sowohl Merkel als auch Tsipras ein. "Merkel hat mit harten Bandagen gespielt in dieser Woche, aber sie hat letztlich Erbarmen gezeigt", sagt der Chef der Liberalen im Europaparlament, Guy Verhofstadt. Die Griechen hätten "schon genug gelitten unter ihrem klientelistischen politischen System".
Griechenland-Krise:Hört auf, Europa kaputtzureden
Der Grieche nervt? Nein, nicht der Grieche. Es sind Politiker, denen bequemer Anti-Europa-Populismus leichter über die Lippen geht als differenzierte Wahrheiten.
Weit weniger Verständnis herrscht in Brüssel für Schäuble. Nicht erst seit seiner Äußerung, es gebe "einige in der Bundesregierung, die durchaus der Meinung sind", dass der Grexit für Griechenland "besser wäre", wird er als harter Verfechter eines Ausscheidens Griechenlands aus der Währungsunion wahrgenommen.
Wichtiger als Schuldzuweisungen und Nachkarten wäre jetzt aber der Blick nach vorn. Der zeigt nämlich, auch wenn der Grexit gerade noch verhindert werden konnte, keineswegs eine leuchtende Zukunft, sondern eine riesige Baustelle in Europa. Die jüngsten Krisenjahre haben eine Erkenntnis überdeutlich gemacht, die den führenden Politikern im Euro-Raum bewusst ist, die manche aber lieber unter den Teppich kehren würden: Im jetzigen Zustand funktioniert die Währungsunion nicht. An der nächsten Krise, ob sie von Spanien ausgeht oder von Italien, könnte sie scheitern, und die EU wohl gleich mit dazu. Wenn die Europäer die gemeinsame Währung behalten wollen, dann müssen sie um- und ausbauen, und zwar im großen Stil.
Vorschläge dazu gibt es inzwischen Dutzende. Der jüngste kommt von Frankreichs Präsidenten. Jetzt müsse eine "Wirtschaftsregierung" her, sagte Hollande am Dienstag, sowie ein gemeinsamer Haushalt und ein Parlament der Euro-Zone, was in etwa den Forderungen entspricht, die der Pariser und der Berliner Wirtschaftsminister, Emmanuel Macron und Sigmar Gabriel, kürzlich aufstellten. Einen ähnlichen Plan, wenn auch ohne Euro-Haushalt, hatten Hollande und Merkel kürzlich schon gemeinsam vorgelegt. Beide wollen zudem den Binnenmarkt vertiefen, eine Energie-, Banken und Kapitalunion schaffen, die Euro-Gruppe "handlungsfähiger" machen.
Ein Memorandum der italienischen Regierung wiederum bringt zusätzlich eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung ins Spiel, die Wissenschaftler für sinnvoll halten, weil sich damit - und mit einem substanziellen gemeinsamen Haushalt der Euro-Zone - die unterschiedliche Konjunkturentwicklung in den Mitgliedstaaten besser ausgleichen ließen.
Den Politikern sitzen Euro-skeptische Populisten im Nacken
Über eine solche Arbeitslosenversicherung wird seit Jahren diskutiert, erwähnt wurde sie schon im Bericht der Präsidenten von vier europäischen Institutionen 2012. Allerdings wäre sie auch der Einstieg in eine Transferunion, und, wie viele der zitierten Vorschläge, mit einem erheblichen Verlust an nationaler Souveränität verbunden. Große Umbauten aber, die eine Änderung der EU-Verträge nötig machten, wollen viele Politiker ihren Bürgern nicht zumuten. Ihnen sitzen Euro-skeptische Populisten im Nacken.
Mit diesem Instinkt liegen sie so falsch nicht. Mehr Macht für Brüssel ist kaum en vogue; in Volksabstimmungen würde das wohl scheitern. Wie wenig Reformwillen Europas führende Politiker deshalb an den Tag legen, illustriert der neueste Bericht der fünf Präsidenten von EU-Institutionen, den sie Ende Juni präsentierten. Er enthält in der Einleitung Bemerkenswertes: Die Euro-Zone könne "nicht allein mittels einer auf Regeln gegründeten Kooperation" gesteuert werden. Nötig sei vielmehr ein "System weitergehender Souveränitäts-Teilung im Rahmen gemeinsamer Institutionen". Es brauche eine echte Wirtschaftsunion, Finanzunion, Fiskalunion und Politische Union. Klingt groß. In den Details aber folgen nur kleinste Schritte.
Deshalb wird die Euro-Zone wohl vorerst "mit den unvollkommenen und unvollständigen Instrumenten und Institutionen" leben müssen. Das schrieb Wolfgang Schäuble 2014 in der Financial Times.