Donald Tusk steht in der Pflicht. Der EU-Ratspräsident weiß, dass er auf den Reformdruck reagieren muss, den Emmanuel Macron entfacht hat. Bei seiner Rede an der Sorbonne hatte der französische Präsident vor drei Wochen so viele Visionen für die Zukunft Europas skizziert, dass so mancher in Brüssel gar nicht weiß, womit man anfangen soll. Tusk jedenfalls will Macrons Esprit nutzen, um voranzubringen, was möglich ist. Zu diesem Zweck hat er für das Treffen der Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag und am Freitag ein Papier verfasst. Die "Leaders' Agenda" soll ein Fahrplan sein, um die Zeit bis zu den Europawahlen 2019 zu nutzen.
Im Gegensatz zu Macron ist Tusk vor allem darauf bedacht, die EU bei den anstehenden Reformen zusammenzuhalten. "Manche mögen sagen, ich bin besessen von der Einheit", schreibt er in seinem Einladungsbrief zum Gipfel, aber er sei aufgrund seiner persönlichen Erfahrung davon überzeugt, "dass die europäische Einheit unsere größte Stärke ist".
Doch wie soll sie aussehen, diese Einheit von Staaten, die in elementaren Fragen weit auseinanderliegen? Nicht nur für Tusk ist das ein Balanceakt. Einheit könne nicht als Entschuldigung gelten, nicht voranzuschreiten, schreibt er. Andererseits dürfe "der Ehrgeiz nicht zu Spaltungen führen". Es ist klar, wem die Warnung gilt: dem ehrgeizigen jungen Mann in Paris. In Osteuropa sieht man das ähnlich. Macrons Vision, die auf ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten hinauslaufe, liege "komplett außerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens", sagt ein EU-Diplomat.
Bringt der EU-Gipfel in Brüssel wie erwartet keine Fortschritte beim Thema Brexit, soll Premierministerin Theresa May die Gespräche mit Brüssel einfach beenden. Das fordert zumindest ein offener Brief, den 25 EU-feindliche Abgeordnete von Mays Tories und der Oppositionspartei Labour sowie Manager und pensionierte Generäle unterzeichnet haben. Das Schreiben erscheint an diesem Donnerstag in britischen Zeitungen. Die EU "verzögert bewusst die Verhandlungen", und das schüre bei Firmen schädliche Unsicherheit über die künftigen Beziehungen, heißt es da. May solle klarmachen, dass sie das Land auf einen Brexit ohne Handelsvertrag vorbereite; die Wirtschaft sei nicht auf so ein Abkommen angewiesen. Björn Finke
Tusks "Leaders' Agenda" ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner. Es tauchen all jene Themen auf, die Europa seit längerer Zeit beschäftigen, mit einem allerdings überraschend konkreten und ambitionierten Zeitplan. So soll es schon zum EU-Gipfel im Juni 2018 eine "umfassende Übereinkunft" zur Migration geben. Hier ist einiges erreicht worden, die Teile der Gesamtstrategie greifen nach und nach ineinander. Es kommen deutlich weniger Migranten, die Lage an den Außengrenzen ist einigermaßen unter Kontrolle, die Vereinbarungen mit Transitstaaten wie der Türkei und Libyen zeigen Wirkung. Es bleibt viel zu tun: bei der Rückführung von Migranten in ihre Herkunftsländer, bei der Rückkehr zu einem Schengenraum ohne Grenzkontrollen, bei der Lage der internierten Flüchtlinge in Libyen.
Unlösbar erscheint das alles nicht. Doch bleibt der grundlegende, Europa spaltende Dissens in der Frage, wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Er lähmt die Arbeit an der Dublin-Reform. Sie soll für den Krisenfall einen neuen Verteilungsmechanismus etablieren, der die Außengrenzstaaten entlastet. Theoretisch ist die Lösung einfach: Jeder nimmt so viele Migranten, wie er kann. Praktisch weigern sich Staaten wie Ungarn oder Polen, nur einen einzigen aufzunehmen.