Süddeutsche Zeitung

Gipfel in Brüssel:Wie sich die EU ändern soll

  • Vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag hat EU-Ratspräsident Tusk einen Fahrplan für Reformen entworfen.
  • Der EU stehen Reformen bevor und Tusk geht es darum, die Einheit der Nationen nicht zu gefährden.
  • Dabei bleibt der grundlegende, Europa spaltende Dissens in der Frage, wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll.

Von Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer, Brüssel

Donald Tusk steht in der Pflicht. Der EU-Ratspräsident weiß, dass er auf den Reformdruck reagieren muss, den Emmanuel Macron entfacht hat. Bei seiner Rede an der Sorbonne hatte der französische Präsident vor drei Wochen so viele Visionen für die Zukunft Europas skizziert, dass so mancher in Brüssel gar nicht weiß, womit man anfangen soll. Tusk jedenfalls will Macrons Esprit nutzen, um voranzubringen, was möglich ist. Zu diesem Zweck hat er für das Treffen der Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag und am Freitag ein Papier verfasst. Die "Leaders' Agenda" soll ein Fahrplan sein, um die Zeit bis zu den Europawahlen 2019 zu nutzen.

Im Gegensatz zu Macron ist Tusk vor allem darauf bedacht, die EU bei den anstehenden Reformen zusammenzuhalten. "Manche mögen sagen, ich bin besessen von der Einheit", schreibt er in seinem Einladungsbrief zum Gipfel, aber er sei aufgrund seiner persönlichen Erfahrung davon überzeugt, "dass die europäische Einheit unsere größte Stärke ist".

Doch wie soll sie aussehen, diese Einheit von Staaten, die in elementaren Fragen weit auseinanderliegen? Nicht nur für Tusk ist das ein Balanceakt. Einheit könne nicht als Entschuldigung gelten, nicht voranzuschreiten, schreibt er. Andererseits dürfe "der Ehrgeiz nicht zu Spaltungen führen". Es ist klar, wem die Warnung gilt: dem ehrgeizigen jungen Mann in Paris. In Osteuropa sieht man das ähnlich. Macrons Vision, die auf ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten hinauslaufe, liege "komplett außerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens", sagt ein EU-Diplomat.

Radikaler Rat

Bringt der EU-Gipfel in Brüssel wie erwartet keine Fortschritte beim Thema Brexit, soll Premierministerin Theresa May die Gespräche mit Brüssel einfach beenden. Das fordert zumindest ein offener Brief, den 25 EU-feindliche Abgeordnete von Mays Tories und der Oppositionspartei Labour sowie Manager und pensionierte Generäle unterzeichnet haben. Das Schreiben erscheint an diesem Donnerstag in britischen Zeitungen. Die EU "verzögert bewusst die Verhandlungen", und das schüre bei Firmen schädliche Unsicherheit über die künftigen Beziehungen, heißt es da. May solle klarmachen, dass sie das Land auf einen Brexit ohne Handelsvertrag vorbereite; die Wirtschaft sei nicht auf so ein Abkommen angewiesen. Björn Finke

Tusks "Leaders' Agenda" ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner. Es tauchen all jene Themen auf, die Europa seit längerer Zeit beschäftigen, mit einem allerdings überraschend konkreten und ambitionierten Zeitplan. So soll es schon zum EU-Gipfel im Juni 2018 eine "umfassende Übereinkunft" zur Migration geben. Hier ist einiges erreicht worden, die Teile der Gesamtstrategie greifen nach und nach ineinander. Es kommen deutlich weniger Migranten, die Lage an den Außengrenzen ist einigermaßen unter Kontrolle, die Vereinbarungen mit Transitstaaten wie der Türkei und Libyen zeigen Wirkung. Es bleibt viel zu tun: bei der Rückführung von Migranten in ihre Herkunftsländer, bei der Rückkehr zu einem Schengenraum ohne Grenzkontrollen, bei der Lage der internierten Flüchtlinge in Libyen.

Unlösbar erscheint das alles nicht. Doch bleibt der grundlegende, Europa spaltende Dissens in der Frage, wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Er lähmt die Arbeit an der Dublin-Reform. Sie soll für den Krisenfall einen neuen Verteilungsmechanismus etablieren, der die Außengrenzstaaten entlastet. Theoretisch ist die Lösung einfach: Jeder nimmt so viele Migranten, wie er kann. Praktisch weigern sich Staaten wie Ungarn oder Polen, nur einen einzigen aufzunehmen.

Man wird weiter versuchen, das Problem mit komplizierten Ausgleichszahlungen zu umlaufen, aber das Scheitern ist absehbar. In Berlin will man dem Spiel nicht mehr lange zuschauen: Wenn es nicht im Konsens gehe, müsse das Problem eben per Mehrheitsentscheidung geklärt werden, und zwar bald. Für Osteuropäer ist das eine Kampfansage: Wer das mache, raunt einer ihrer Diplomaten, "muss sich der Folgen bewusst sein".

Ebenfalls schon Mitte 2018 erhofft sich Tusk "konkrete Entscheidungen" zur Reform der Währungsunion. Der Euro, der die Gemeinschaft einen sollte, ist zum Spaltpilz des Kontinents geworden. Entsprechend unterschiedlich sind die Vorstellungen, wie die Währungsunion krisenfest gemacht werden kann. Bereits im Dezember sollen die Staats- und Regierungschefs bei einem Euro-Gipfel jene Themen ausloten, über die dann im Sommer entschieden werden soll.

Zwei Punkte haben die größte Chance auf Verwirklichung: die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds sowie die Vollendung der Bankenunion. Auch die Frage, ob die komplizierten Kriterien des Stabilitätspakts nicht endlich vereinfacht werden sollen, könnte auf die Agenda kommen. Weil aber auch die neue Regierung in Berlin gegen jede Form der Umverteilung sein dürfte, wird die Debatte über Macrons Idee eines großen Haushalts für die Euro-Zone samt Euro-Finanzminister äußerst schwierig werden.

Beim Gipfel diese Woche wird sich zeigen, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel dem fordernden Macron gegenübertritt. Aus Berlin heißt es, trotz Jamaika-Sondierungsgesprächen gebe es noch immer eine amtierende Bundesregierung, die von Montag an geschäftsführend im Amt sei - und die mit einer "gewissen Zurückhaltung" agieren werde.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3714217
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.10.2017/fued
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.