Gabriel ist SPD-Chef:Siggi ist Pop

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Sigmar Gabriel rockt mit einer grandiosen Rede den SPD-Parteitag in Dresden. Die Delegierten bedanken sich mit 94,2 Prozent Zustimmung beim einstigen Pop-Beauftragten der Partei. Es könnte der Beginn einer neuen Freundschaft werden.

Thorsten Denkler, Dresden

Ein paar Schritte hinten um Müntefering herum, dann um die Ecke das Präsidium hoch und plötzlich steht Sigmar Gabriel vor Kurt Beck, schüttelt ihm die Hand und nimmt ihn in den Arm. Der Saal tobt schon, rhythmischer Applaus. Kein Delegierter, der noch sitzen würde, nach der 95-Minuten-Rede des einzigen Kandidaten für das Amt des Parteivorsitzenden.

Sigmar Gabriel, der neue Parteivorsitzende der SPD, lässt sich auf dem Parteitag in Dresden feiern. (Foto: Foto: Reuters)

Jetzt aber, im Moment der Umarmung mit seinem Vorvorgänger, brandet der Applaus noch einmal auf. Es ist die endgültige Rehabilitierung von Kurt Beck, der am Schwielowsee vor etwas über einem Jahr aus dem Amt getrieben wurde. Und das Meisterstück von Sigmar Gabriel.

Kurt Beck wird sehr viel später am Abend zu sueddeutsche.de sagen, es freue ihn sehr, dass "manches, was ich mir schon für die Partei vorgestellt habe, jetzt auch angefangen wird. Das ist gut."

Vor ein paar Jahren wurde Gabriel noch als "Siggi Pop" belächelt, weil er sich nach verlorener Landtagswahl in Niedersachsen zum Pop-Beauftragten der SPD degradieren ließ. Jetzt hat er sich mit einer Rede zum neuen politischen Pop-Star der SPD hoch katapultiert.

Ganz geheuer scheint ihm das alles nicht. Als der Applaus nicht abebben will, als er schon Erhard Eppler, Hans-Jochen Vogel und DGB-Chef Michael Sommer die Hände geschüttelt oder die Männer gedrückt und geherzt hat, da springt er noch mal zum Mikrofon. Die Haare kleben an seiner Stirn. Geschafft wirkt er, auch überwältigt irgendwie. Er bittet um ein Ende des Beifalls. Es müsse ja noch gewählt werden.

Der Applaus bricht umgehend ab. Gabriel stockt: "Äh, mehr wollte ich gar nicht", sagt er und geht leicht irritiert auf seinen Platz zurück. Eine gute Stunde nach seiner Rede wird das Ergebnis verkündet: 94,2 Prozent. Ein umjubelter Traumstart.

Gabriel sieht aus, als müsse er schlucken, als er es hört. Langsam steht er auf, schüttelt Hände, geht zum Pult, legt darauf den Strauß Blumen ab, den er gerade bekommen hat, und tritt vor. Die Delegierten klatschen, er hebt nur die Hand zum Gruß, geht so langsam zurück, wie er gekommen ist, nimmt den Blumenstrauß vom Pult, den er hinter sich her schleppt, als stecke darin die ganze Last des Amtes, das er gerade übernommen hat. Am Morgen war noch über ein "ehrliches Ergebnis" spekuliert worden. Irgendwas um 85 Prozent. Jetzt hat Gabriel 472 von 501 Stimmen. Auch Erfolg kann bedrücken.

Gute zwei Stunden zuvor: Gabriel fängt bescheiden an. Es ist der Beginn seiner Rede, mit der er den Weg zu diesem Wahlergebnis ebnet. Zuvor hatte eine Delegierte angekündigt, weder ihm noch dem Leitantrag des SPD-Vorstandes ihre Stimme geben zu können. Gabriel wendet sich direkt an sie. Er will sie "um was bitten. Dass du dem Leitantrag und mir und allen eine Chance gibst." Beifall schon jetzt.

Er findet den Ton

Dann gesteht er: "Selbst einer wie ich hat da ein bisschen Lampenfieber vor dem, was da jetzt kommt." Er meint diese Rede, diese eineinhalb Stunden, die vor ihm liegen. "Wir bitten um Vertrauensvorschuss und um mehr können wir auch nicht bitten."

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Es wird das, was man eine große Rede nennt. Außen-, Innen-, Sozial- und Bildungspolitik, Gabriel lässt kein Themenfeld aus. Er dekliniert für alle Themen durch, was linke Politik ist, was daran sozialdemokratisch ist. Er findet den Ton. Die Delegierten bejubeln ihn bald nach jedem Absatz.

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Es sind aber vor allem die Stellen, in denen er sich mit den Fehlern der Vergangenheit auseinandersetzt, die ihm die Sympathien bringen. Dass es in der Partei einen neuen Umgang miteinander geben müsse. Dass in der Sozialdemokratie Schluss damit sein müsse, dass es "so schwierig ist, sich zu verzeihen".

Wenn das Wort Genosse wieder einen "stolzen Klang" bekommen soll, dann muss es "als Zeichen innerer Verbundenheit, als Symbol für Gleichheit innerhalb der Partei, als Zeichen, dass uns viel mehr eint, als uns trennt" verstanden werden.

Die Beschlüsse zu Hartz IV, zur Rentenpolitik, die seien nicht die Ursachen für die Krise, allerhöchstens ihre Symptome. "Wir haben in Etappen verloren." Das liege an einem "Irrglauben darüber, was eigentlich die politische Mitte in diesem Land ist." Die sei ein fester Ort. Die politische Mitte "hat der gewonnen, der die richtigen Fragen und die richtigen Antworten bereithält". Es gelte, die Deutungshoheit über diese Mitte zurückzuerobern. "Statt die Mitte zu verändern, haben wir uns verändert."

Er nimmt sich nicht aus der Verantwortung. Alles, was geschehen sei, habe er mitgemacht, da sei er dabei gewesen. Hartz IV bleibe im Prinzip richtig. Doch der, der Jahrzehnte gearbeitet habe, der "muss das als Missachtung seiner Lebensleistung empfinden", wenn ein anderer genau so viel bekommt, der noch nie gearbeitet hat.

Nur zwei Sätze zur Linken

Gabriel sagt auch, er habe gehofft, dass in der Zeitarbeit der "berühmte Klebeeffekt eintritt", dass Leiharbeiter schnell übernommen werden, wenn sie sich bewährt haben. Ein Irrtum, offenbar: "Wir haben das Scheunentor für Scheintarifverträge geöffnet", sagt er. "Wir haben dafür gesorgt, dass das der Regelfall ist, dass die mit Armutslöhnen zu kämpfen haben."

Wir, sagt Gabriel. Die Delegierten danken ihm, dass er nicht anderen die Schuld in die Schuhe schiebt. Auch die Rente mit 67 spricht er konkret an. "Ja, es stimmt, die alte Formel der Rente passt nicht mehr", verteidigt er das Projekt. Doch auch hier differenziert er. "Ich kenne keine Krankenschwester, die mit 67 noch einen Patienten heben kann."

Zwei Sätze auch zur Linken. Sie kommen ganz am Anfang seiner Rede: "Ich will, dass die SPD wieder stärker wird. Dann wird auch in der Partei Die Linke eine Debatte losgehen, was sie ändern müssen, damit sie mit uns regieren dürfen". Das Wort "dürfen" steht im Manuskript in Großbuchstaben, unterstrichen und fett gedruckt. Damit ist dazu alles gesagt.

Was aus all dem folgt? Gabriel will es nicht vorweg nehmen. Die Partei soll das klären, in Diskussionen von unten nach oben. Sachfragen sollen auch per Urwahl entschieden werden. Er fordert die Mitglieder auf, zu den Menschen zu gehen, um Lösungen zu entwickeln. Und zwar dahin, "wo es laut ist, wo es brodelt, wo es gelegentlich auch mal stinkt! Dahin, wo es anstrengend ist. Nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben!"

Die Partei muss ins Leben zurück. Das will Gabriel offenbar. Dafür hat ihn die Partei gewählt. Aber Gabriel warnt auch: "Mehr Basisdemokratie ist mehr Arbeit, macht euch da keine Illusionen. Ihr müsst damit rechnen, dass wir euch belästigen." Bei Gabriel können sich die Delegierten sicher sein: Das meint er auch so.

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