Frühe Aussagen von KZ-Häftlingen:Wie Fischhändler Ber Ryczywol den Judenfängern entkam

Der Warschauer Fischhändler Ber Ryczywol schilderte Bluma Wasser, einer Mitarbeiterin der Historischen Kommission, seine unglaubliche Odyssee, als er versuchte, sich als "Goj", als Nicht-Jude, auszugeben und sich so auf ständiger Wanderschaft durch das besetzte Polen vor den deutschen Judenfängern zu retten. "Ich sehe ihn noch heute an meinem Arbeitstisch sitzen, den alten, erschöpften Juden mit den jungen Augen", schrieb Bluma Wasser in ihrem Vorwort zu dem Bericht. "Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie er immer wieder die Henker täuschen und sein Leben herauswinden konnte. In dem Bericht ist nichts Pose (...) Ber Ryczywol redet nicht einfach in die Welt hinaus, er sagt, dass das Leben ihn gelehrt habe, seine Gedanken und Worte abzuwägen. Er will nicht als Held erscheinen."

Die 36 Texte, die von der Jüdischen Historischen Kommission veröffentlicht wurden, sind nur ein Teil des Materials, das die Wissenschaftler in den drei Jahren von 1944 bis 1947 sammelten. Dass wenigstens ein Ausschnitt dieser einzigartigen Textsammlung nun auch dem deutschen Publikum zugänglich ist, verdankt sich vor allem einem Mann, der eigentlich nicht "vom Fach" ist: Frank Beer ist Chemiker und arbeitet im Bundesamt für das Straßenwesen in Bergisch Gladbach. Aus ganz persönlichem Interesse suchte er nach einem Bericht über das Vernichtungslager Bełżec - lange Zeit vergeblich. Dann entdeckte er im ZVAB - dem Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher im Internet - einen Hinweis auf einen Titel " Bełżec", zu beziehen über einen Antiquar in Holland.

Der Antiquar fragte zunächst verwundert nach, ob der Kunde den Titel auch wirklich bestellen wolle - es handele sich um einen polnischen Text. Es war, wie sich herausstellte, eine der Publikationen der Jüdischen Historischen Kommission, verfasst von Rudolf Reder, einem der ganz wenigen Überlebenden des Lagers Bełżec, erschienen 1946 in Warschau.

Auf der Rückseite des 65 Seiten starken Heftes war eine Liste der bis dahin erschienenen Veröffentlichungen der Kommission abgedruckt. Frank Beer, neugierig geworden, fuhr nach Warschau, forschte in Antiquariaten, und hatte in kurzer Zeit weitere fünf Originaltexte ausfindig gemacht, die, wie er leicht feststellen konnte, noch nie auf Deutsch erschienen waren.

Er wandte sich mit seinen Funden an Wolfgang Benz, den langjährigen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und einen der besten deutschen Kenner der Geschichte des Holocaust. Zumindest unter den einschlägig bewanderten Historikern war die Existenz der Texte durchaus bekannt; auf die Idee, sie in Deutschland zu veröffentlichen, war allerdings bislang noch keiner gekommen. Benz musste nicht lange überzeugt werden, dass dies ein förderungswürdiges Projekt sei. Aber es zeigte sich, dass das nicht so leicht zu bewerkstelligen war. "Wir haben alle Verlage angeschrieben", sagt Benz, "und die Reaktionen waren schnell und drastisch: Wer soll das kaufen? Wer will das lesen?"

Nun haben der Berliner Metropol-Verlag und der Verlag Dachauer Hefte den Band mit zwölf von der Jüdischen Historischen Kommission publizierten Texten herausgegeben, beide Verlage sind außerordentlich seriöse Adressen, deren Bücher freilich bisher nie in den Bestsellerlisten aufgetaucht sind. Die Skepsis der großen Publikumsverlage ist ja durchaus verständlich: Man wird diese Texte nicht in erster Linie um der historischen Erkenntnis willen lesen - wer sich mit der Geschichte des Holocaust befasst hat, findet hier fast nichts, das er nicht schon weiß.

Es ist auch sicher nicht ratsam, sie vor dem Einschlafen zu lesen: Auch wer sich auskennt in der Holocaust-Literatur, muss sich wappnen gegen die maßlose Brutalität, die ihm aus diesen Augenzeugenberichten entgegenschlägt. Hier sprechen die, die das Unvorstellbare erlebt haben, unmittelbar zu uns, als gäbe es keine zeitliche und räumliche Distanz. Man wird diese Texte lesen wie einen Fund, den man aus einem gesunkenen Schiff geborgen hat, wie eine Botschaft, die lange verschollen war und die nun wieder ans Licht gekommen ist. Wir hören Menschen, die aus der Hölle sprechen.

Frank Beer, Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944 - 1947. Metropol-Verlag und Verlag Dachauer Hefte, 2014. 656 S., 29,90 Euro.

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