Studie zum Nationalsozialismus:Bis zu 20 Millionen Gefangene und Tote in 42.500 Lagern

Kinder Ghetto Warschau; Juden. Bundesarchiv N 1576 Bild-003

Opfer des braunen Gulag-Systems: Hungernde Kinder in Lumpen im Warschauer Ghetto 1940.

(Foto: Bundesarchiv)

Der Vernichtungsapparat der Nazis war viel größer als heute bekannt, erklärt das Washingtoner Holocaust Memorial Museum. Das Netzwerk der Ghettos, Zwangsbordelle und Lager für Arbeitssklaven war demnach so dicht, dass es bis nach München-Schwabing reichte.

Von Oliver Das Gupta

13 Jahre haben Forscher des United Staates Holocaust Museum für ihre bisherige Arbeit benötigt. 13 Jahre, in denen bei den durchaus hartgesottenen Wissenschaftlern das Entsetzen mehr und mehr wuchs. 13 Jahre hat das Team um Geoffrey Megargee und Martin Dean untersucht, an welchen Orten das nationalsozialistische Deutschland zwischen 1933 und 1945 Menschen gefangen gehalten und ermordet hatte. Deans Befund: "Sie waren überall".

Der Unterdrückungs- und Vernichtungsapparat des NS-Regimes war demnach weitaus größer, als bislang befürchtet. Der New York Times zufolge listen die Forscher in ihrer Studie etwa 42.500 Plätze in Europa auf, an denen die Nazis Menschen hungern ließen, mit Zwangsarbeit quälten und umbrachten. Das Ausmaß habe die Washingtoner Rechercheure geschockt, schreibt die Zeitung.

30.000 Lager für Sklavenarbeiter, 1150 jüdische Ghettos, 980 Konzentrationslager, 1000 Kriegsgefangenenlager, 500 Bordelle, in denen Frauen zur Prostitution gezwungen wurden (hier mehr zu dem Thema). Dazu Tausende andere Camps, die dafür genutzt wurden, Gefangene zu germanisieren, Frauen zu Abtreibungen zu zwingen, psychisch Kranke in Euthanasie-Aktionen zu ermorden und Häftlinge für den Transport in die Todeslager zu sammeln.

15 bis 20 Millionen sollen Opfer der Maschinerie geworden sein, schätzen Megargee und Dean. 15 bis 20 Millionen Menschen, die in den Lagern litten; viele davon starben durch Hunger, Seuchen oder die Hand der deutschen Besatzer.

Ungestörtes Wüten in den Weiten des Ostens

So ausführlich das Geschehen in größeren Lagern und Ghettos wie Auschwitz und Warschau dokumentiert ist, so wenig bekannt sind die Verbrechen der Nazis in kleineren Orten. Gerade nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wüteten Hitlers willige Vollstrecker ungestört in den Weiten der Ostgebiete, die die Wehrmacht in ihrem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erobert hatte (hier mehr zu diesem Thema).

Erst in den vergangenen Jahren wird nach und nach rekonstruiert, welches Ausmaß der Holocaust jenseits der Konzentrationslager in Weißrussland und der Ukraine hatte. Dort metzelten Einsatzgruppen und Polizisten sowie einheimische Helfer meist jüdische Zivilisten hin. Zigtausende Frauen, Männer und Kindern wurden erschossen und erschlagen, vermeintliche oder tatsächliche Partisanten gehenkt. Dokumentiert werden kann davon nicht mehr sehr viel.

Tausende "Judenhäuser" in Berlin und Hamburg

Ähnlich verhält es sich mit den unzähligen nur regional bekannten Lagern, auf die die Washingtoner Forscher stießen. Es wurde auch deutlich, wie sehr sich die Lager und Ghettos unterschieden haben: Sie waren nach dem jeweiligen Verwendungszwecken der braunen Menschenvernichter gestaltet: meist zur Zwangsarbeit oder zur Vernichtung.

Für ihre Studie setzten die Wissenschaftler auf Quellen, die es nicht mehr lange geben wird: Zeitzeugen. In die Arbeit floß die Erinnerung von 400 Überlebenden ein. Sie wurden oft von Lager zu Lager verfrachtet, gerade dorthin, wo die Deutschen sie brauchten. So erweiterte sich das Wissen Stück für Stück. Gänzlich unbekannte oder kaum bekannte Lager erhielten so einen Standort und einen Namen.

Die Studie könnte Überlebenden helfen, ihre Ansprüche auf Entschädigung geltend zu machen. Denn mitunter scheiterten ihre Versuche auch deshalb, weil der Ort ihres Martyriums nicht bekannt war.

Häftlingsaußenstelle München-Schwabing

Eine andere Quintessenz bezieht sich auf die nichtverfolgte deutsche Bevölkerung, die damals lebte. Der nach dem Krieg oft verwendete Ausrede, wonach man von Verbrechen an Juden und andere Opfergruppen nichts mitbekommen habe, ist angesichts der Ergebnisse aus Washington abermals entlarvt. Sie müssten es mitbekommen, daran sei "kein Zweifel", erklärt Forscher Dean.

Allein in Berlin zählten die Forscher etwa 3000 so genannter Judenhäuser, in denen jüdischstämmige Deutsche eingepfercht wurden, in Hamburg sollen es 1300 gewesen sein.

Im gemütlichen München, der "Hauptstadt der Bewegung", existierte die kleinste Außenstelle des braunen Gulag-Systems: Häftlinge im Künstlerviertel Schwabing. Schon vor Kriegsausbruch war dort eine Handvoll Häftlinge aus dem KZ Dachau abkommandiert, um einer einzigen Person zu Diensten zu sein: Eleonore Baur, auch als "Blutschwester Pia" bekannt (hier mehr zu dem Thema).

Früh war Baur zu den Nazis gestoßen, marschierte beim Hitler-Putsch 1923 mit. SS-Führer Heinrich Himmler nannte sie seine "schwarze Perle" und erlaubte ihr den Zugang zum KZ Dachau, wo sie bei Menschenversuchen zusah und sich Häftlinge aussuchte.

Die fanatische Nationalsozialistin ließ "ihre" Sklaven dann ungeniert mitten in München schuften: Ab 1934 in ihrer Wohnung im Stadtteil Moosach, später in ihrem Anwesen in Oberhaching.

Linktipp: Unvollständige Wikipedia-Liste der Juden-Ghettos während der Nazi-Zeit.

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