Vernichtungskrieg im Osten:"Die Wehrmacht war an allen Verbrechen beteiligt"

Historiker Christian Hartmann schildert die Arbeitsteilung zwischen SS und der Wehrmacht bei Massenmorden an der Ostfront.

Oliver Das Gupta

Christian Hartmann, Jahrgang 1959, ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Überfall auf die Sowjetunion durch Hitler-Deutschland, der am 22. Juni 1941 begonnen hatte. Hartmanns Habilitationsschrift "Wehrmacht im Ostkrieg" folgten mehrere Publikationen zur Militärgeschichte, 2011 erschien "Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941-1945" bei C.H. Beck.

SZ: Stalin und Hitler hatten sich im August 1939, kurz vor dem Polen-Feldzug, mit einem Nichtangriffspakt arrangiert, obwohl sie ideologisch zutiefst verfeindet waren. Musste es irgendwann zu diesem Krieg kommen?

Christian Hartmann: Schwer zu sagen. Tatsache ist: Die Systeme waren antagonistisch. Tatsache ist aber auch: Hitler sprach schon sehr früh von einer Eroberung eines zu germanisierenden "Lebensraumes im Osten": In seinem Pamphlet Mein Kampf schreibt er 1924/25 davon, vor der Reichswehrgeneralität bekräftigt er seine Ziele unmittelbar nach der Machtergreifung 1933. Später wiederholt er seine Aussagen, ab 1940 wird seine Planung konkreter. Kurz: Dieser Eroberungskrieg war auf jeden Fall ein genuin deutsches Projekt; er ist von Deutschland eröffnet worden.

SZ: Die Politik der Sowjetunion war allerdings expansiv.

Hartmann: Sicher: Stalin spekulierte wohl darauf, dass Deutschland und die Westmächte in einen Abnutzungskrieg geraten wie im Ersten Weltkrieg - und der Kreml dann langsam den militärisch-politischen Druck erhöhen könnte. Auch Außenminister Molotows Besuch bei Hitler 1940 deutet darauf hin, bei dem er beispielsweise auslotete, wie es um Rumänien stünde. Die Kraft hinter dem Expansionsdrang war der Traum von einem Russischen Reich, wie es vor 1914 bestanden hatte - das hatte freilich nichts mit Weltrevolution zu tun. Aber die Präventivkriegsthese, die Behauptung, Hitler wäre Stalin nur zuvorgekommen, ist ein Propagandakonstrukt. Die Deutschen haben sich 1941 nicht bedroht gefühlt.

SZ: Trotz der Äußerungen Hitlers und konkreten Warnungen wie beispielsweise vom Spion Dr. Richard Sorge aus Tokio wollte Stalin die Meldungen vom Überfall zunächst nicht glauben. Warum war der chronisch misstrauische Sowjetführer überrascht?

Hartmann: Ich denke, das lag an seinem strikt doktrinär gehaltenen Denken. Entsprechend gestaltete er auch seine Außenpolitik.

SZ: Hitlers Feldzug sprengte das Konzept, an das Stalin glaubte?

Hartmann: In der Tat. Stalin weigerte sich bis zuletzt, der offensichtlichen Entwicklung ins Auge zu sehen - und die Deutschen profitierten davon.

SZ: Hitler hat diesen Waffengang von Beginn an als Kampf von Rasse gegen Rasse gesehen: als Vernichtungskrieg. Neben dem berüchtigten "Kommissarbefehl" ermunterten hohe Heerführer ihre Landser, rücksichtslos gegen den Gegner vorzugehen und das "jüdisch-bolschewistische System" auszurotten. Verfing diese Hetze bei den Soldaten?

Hartmann: Anfangs wohl doch bei der Mehrheit. Sie finden immer wieder diese NS-Stereotypen in Feldpostbriefen und Tagebüchern. Allerdings darf man die Wirkung der Ideologie auch nicht überschätzen. Sie ließ durchaus nach. Spätestens beim Wintereinbruch 1941 merkten viele Soldaten, wie verlogen die nationalsozialistischen Verheißungen waren: Im Bezug auf einen schnellen, leichten Sieg, aber auch hinsichtlich der Bevölkerung.

SZ: Wie meinen Sie das?

Hartmann: Im Grunde genommen ist es ein Kennenlernprozess: Die deutschen Soldaten preschen zunächst ins Land und waren geprägt von ihren Vorurteilen, von den ideologischen Stereotypen. Gerade die ersten Monate waren besonders brutal. Nach einiger Zeit aber stellt sich eine Entwicklung ein: Man wurde einander vertraut. Schon im ersten Jahr an der Ostfront gibt es viele Kontakte zwischen deutschen Invasoren und einheimischen Frauen, ein Prozess der sich im Laufe des Kriegs immer weiter vertieft bis hin zu regelrecht "familiären" Verhältnissen. Teilweise waren das richtige Beziehungen, man teilte sich eine Hütte. Aufs Ganze gesehen war freilich die deutsche Besatzungsherrschaft sehr heterogen. Neben einem maßlos brutalen Besatzungsregime gab es Verhältnisse, die denen des Ersten Weltkriegs ähnelten.

"Ich glaube Helmut Schmidt, dass er keine Verbrechen gesehen hat"

SZ: Auch die Wehrmacht verübte Verbrechen mit dem Segen ihrer Anführer. Warum machten sich die Generäle zu Handlangern von Hitlers Vernichtungskrieg?

Partisanen Wehrmacht Hinrichtung Deutsches Bundesarchiv

Wehrmachtssoldaten fotografieren die Hinrichtung eines angeblichen Partisanen bei Orel (Orjol) 1941.

(Foto: Bundesarchiv)

Hartmann: Die Elite des deutschen Streitkräfte war meist nationalkonservativ und geprägt durch das Wilhelminische Kaiserreich. In den Reihen der höchsten Generalität fanden sich 1941 erstaunlicherweise relativ wenig wirkliche Nazis. Nur eine kleinere Gruppe könnte man als überzeugte Weltanschauungskrieger bezeichnen. Und dann existierte noch eine dritte, kleine Gruppe, die sich gegenüber diesem Krieg und seinem Chrakter eher skeptisch zeigte.

SZ: Warum zogen trotzdem alle mit, als es gegen die Sowjets ging?

Hartmann: Das lag am Ausnahmejahr 1940, an den Siegen in Skandinavien und vor allem im Westen. Der "Führer" hatte recht behalten, die zuvor durchaus skeptische Generalität nicht. Danach sind die Dämme gebrochen. Der Generalstabschef Franz Halder, der zu Beginn des Krieges noch gegen Hitler konspirierte, hielt Hitler fortan für den Napoleon der neuen Zeit.

SZ: Wie tief war denn die deutsche Wehrmacht in die Verbrechen verstrickt?

Hartmann: Da ist zu differenzieren: Als Institution ist die Wehrmacht für furchtbare Verbrechen verantwortlich gewesen. Anders ist es dagegen mit der individuellen Verantwortung. Viele Soldaten sind schuldig geworden, aufs Ganze gesehen bleibt aber die Zahl der Täter relativ klein. Das lag daran, dass die Armee im Osten nicht, wie zuvor üblich, für die Besatzungspolitik zuständig ist. Hitler misstraut den Generälen und installiert drei konkurrierende Gruppen. Neben der Wehrmacht und der Zivilverwaltung die Wirtschaftsorganisation Ost von Reichsmarschall Hermann Göring, die die Gebiete ausbeutete, und die SS- und Polizei-Verbände von SS-Chef Heinrich Himmler, gewissermaßen die Männer fürs Grobe.

SZ: Zynisch formuliert: Es gab eine Art Arbeitsteilung

Hartmann: So ist es. Man kann es sich wie einen Verdauungsprozess vorstellen: Vorne fräst sich die Wehrmacht ins Land, und dann werden die eroberten Gebiete im Sinne der NS-Ideologie umgestaltet. Das ist ein durch und durch destruktiver Prozess. Je weiter sie von der Front ins Hinterland kamen, desto größer ist die Chance, zum Täter zu werden. Die Masse der Wehrmacht war vorne an der Front eingesetzt. Dennoch: Die Wehrmacht als Organisation war an allen Verbrechen dieses Krieges beteiligt.

SZ: Viele ehemalige deutsche Soldaten wie auch Altkanzler Helmut Schmidt behaupten, sie hätten von den Verbrechen im Osten nichts mitbekommen. Kann das stimmen?

Hartmann: Ich glaube Schmidt. Gerüchte gab es natürlich, dass mit den Juden irgendwas passiert, aber die Informationen waren spärlich. Wenn sie mit ihrer Einheit irgendwo in Stellung lagen, erfuhren sie kaum, was sich 80 Kilometer weiter hinten abspielte. Die Wahrnehmung der meisten war zwangsläufig auf das eigene Überleben konzentriert. Oft wurden Verbrechen auch als Erschießung von Partisanen verschleiert. Schmidt, der damals als Oberleutnant der Luftwaffe im Osten war, hat wohl wirklich nichts gesehen. Ein anderer Oberleutnant der Luftwaffe, Franz Josef Strauß, hat wiederum nach dem Krieg berichtet, wie er ein Massaker mitbekommen hat. Ob das geschah, hing oft vom Zufall ab.

SZ: Ihr Historikerkollege Hannes Heer, der die erste Wehrmachtsausstellung gestaltete, glaubt nicht, dass wenige Täter so viele Menschen ermorden konnten.

Hartmann: Ich glaube, die Gleichung: viele Opfer = viele Täter kann man so nicht machen. Es bedurfte tatsächlich viel weniger Täter, als man glaubt: Sehr viele Menschen starben an ganz bestimmten Orten, fast könnte man sagen: neuralgischen Punkten dieses Krieges wie in den Kriegsgefangenenlagern oder während des Partisanenkrieges. Ein frappierender Aspekt dabei ist: Viele der Täter waren keine Weltanschauungskrieger, sondern reaktivierte Familienväter, um die fünfzig, die in der Etappe in Polizeieinheiten oder Sicherungskompanien eingesetzt wurden und dort dafür verantwortlich waren, dass Tausende ihr Leben verloren. In der Rückzugsphase kam eine neue, schreckliche Seite der Verbrechen dazu: die Politik der verbrannten Erde.

"Viele Russen sahen in den Deutschen zunächst Befreier"

SZ: Manche der Kriegsgefangenen ließen sich von den Deutschen rekrutieren - so wie der mutmaßliche SS-Scherge John Demjanjuk, der unlängst in München vor Gericht stand.

Einheimische in der Wehrmacht Sowjetunion

Kollaborierten zu Hunderttausenden mit den deutschen Invasoren: Sowjetische Einheimische. Im Vordergrund ist ein deutscher Gebirgsjäger zu sehen.

(Foto: Bundesarchiv)

Hartmann: Es ging oft nicht um Politik, sondern ums pure Überleben. Anfangs war vielen auch nicht klar, was Hitler-Deutschland vorhatte. Große Teile der Bevölkerung litten unter Stalins mörderischem Regime, viele sahen in den Deutschen zunächst tatsächliche Befreier. Sie dachten, das relativ moderate Besatzungsregime des Ersten Weltkrieges würde sich wiederholen - und sie hofften, dass der Bolschewismus nun enden würde.

SZ: Eine Hoffnung, die sich alsbald als Trugschluss herausstellte. Wie viele Rotarmisten und Sowjetbürger arrangierten sich mit den Invasoren?

Hartmann: Ziemlich viele: Wir reden hier von 800.000 Russen, 280.000 Kaukasiern, 250.000 Ukrainern und 100.000 Letten.

SZ: Weiß die Geschichtswissenschaft eigentlich genug über den Krieg im Osten?

Hartmann: Die großen Strukturen kennen wir, die Dinge, die auf der Mikroebene passierten, weitaus weniger. Man darf nicht vergessen: Millionen Menschen waren involviert - es war eine riesengroße Katastrophe, von der nur ein kleiner Teil der Quellen erhalten geblieben sind.

SZ: Schlummern auf deutschen Dachböden oder russischen Archiven noch Überraschungen?

Hartmann: Sicherlich sind noch viele Quellen unentdeckt. Das betrifft die deutsche Seite, aber noch viel mehr die sowjetische Seite. Es gibt große Teilbereiche, deren Erforschung noch am Anfang steht.

SZ: Können Sie ein Beispiel nennen?

Hartmann: Den genauen Ablauf der Planungsphase für den Überfall auf die Sowjetunion. Oder die oftmals namenlosen Kriegsgefangenen: Unzählige Kriegsgefangene wurden in Massengräbern verscharrt. Inzwischen wurden die deutschen Namenslisten entdeckt in Russland, wohin sie nach dem Krieg geschafft wurden. Sie werden nun durchgearbeitet und digital erfasst - und viele der anonymen Toten erhalten ihre Namen zurück.

SZ: Der "Große Vaterländische Krieg" gilt auch im heutigen Russland noch als identitätsstiftendes Ereignis, der Sieg über das Dritte Reich wird Jahr für Jahr groß gefeiert. Wie erklären Sie sich, dass das Deutschlandbild der Russen unterm Strich positiv ist?

Hartmann: Angesichts der Verbrechen, die die Deutschen dort verübt haben, ist diese Deutschfreundlichkeit tatsächlich verblüffend. Die Sympathie wurzelt wohl einerseits an der gegenseitigen Bewunderung und den Beziehungen, die viele Jahrhunderte zurückreichen. Beide Seiten wissen, dass die deutsch-russischen Beziehungen viel älter sind. Ich habe den Eindruck, dass mittlerweile auf beiden Seiten die alten Frontstellungen überwunden sind.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: