Ein Interview schlägt Wellen in Italien und darüber hinaus, die römische Zeitung La Repubblica hat dafür die ersten fünf Seiten ihrer Samstagsausgabe freigeräumt: Giuliano Amato, zweimal Ministerpräsident und lange Präsident des Verfassungsgerichts, hat ein Trauma der italienischen Politik wieder zum Thema gemacht, den Absturz der Passagiermaschine DC-9 der Fluggesellschaft Itavia im Jahr 1980. Damals starben alle 81 Insassen - es war das sogenannte Massaker von Ustica.
Benannt hatte man den Vorfall nach der Insel vor der Küste Siziliens, in deren Nähe das Flugzeug auf seinem Weg von Bologna nach Palermo im Meer versank. Die Wrackteile wurden viele Jahre später aus mehr als 3000 Meter Tiefe geborgen und in einem Hangar wieder zusammengesetzt, um das Rätsel zu lösen. Auch 43 Jahre danach herrscht keine Klarheit darüber, wie es zu diesem Unglück kommen konnte. Es gibt viele konkurrierende Thesen dazu.
Amatos These: Eine Rakete habe eigentlich Gaddafis Jet abschießen sollen und traf den Itavia-Flieger
Amato aber, der sechs Jahre nach der Katastrophe mit den Ermittlungen beauftragt worden war, fand nun, die Zeit sei reif, seine Version der Wahrheit klar zu benennen. Und die lautet so: Ein französischer Kampfjet, der in einer Großoperation unterwegs war, soll eine Rakete abgefeuert haben. Diese Rakete sollte eigentlich den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi töten, den man an Bord eines libyschen MiG-Jets gewähnt hatte, sie traf aber die Passagiermaschine der Itavia im selben Luftraum.
Amato behauptet das nicht mit letzter Gewissheit. Er spricht von der "glaubwürdigsten" Version, die ihm begegnet sei in den vielen Jahren, in denen er sich mit dem Thema beschäftigt habe. Am Abend jenes 27. Juni 1980 soll es also eine Art Luftkrieg gegeben haben über Italien. Franzosen und Amerikaner hätten eine Nato-Übung simuliert, ein Großmanöver. Es sollte später so aussehen, als wäre der Jet mit dem unliebsamen Revolutionsführer aus Tripolis in einen Unfall geraten - das war angeblich der Plan. Aber eben: Gaddafi befand sich gar nicht an Bord der MiG. Amato behauptet jetzt, Bettino Craxi, der spätere Premier Italiens und Sozialist wie er, hätte den Libyer rechtzeitig gewarnt.
Die Reaktionen auf das Interview sind gewaltig. Militärs, die damals beteiligt waren, widersprechen Amato und halten an ihrer schon lange geäußerten Version fest, dass eine Bombe an Bord der Itavia explodiert sei. Skeptiker dieser Argumentationslinie vermuten, die Militärs wollten immer nur die "Ehre" des Militärs retten, auch jene der Verbündeten. Zu Wort meldeten sich nun auch die Kinder des verstorbenen Premiers Craxi, Stefania und Bobo, beide heute selbst in der Politik. Sie werfen Amato vor, er verbreite eine historische Unwahrheit: Ihr Vater habe zwar tatsächlich Gaddafi einmal vor einem Angriff gewarnt, weil er besorgt gewesen sei wegen einer drohenden Destabilisierung des Mittelmeerraums. Das sei aber sechs Jahre später gewesen, 1986.
Paris reagiert gelassen: Neue Beweise gibt es keine
Aber was ist mit der Bezichtigung Frankreichs? Amato weiß natürlich, was er da auslöst. Das Thema ist diplomatisch brisant, zumal die zentristische Regierung in Paris und die Rechtskoalition in Rom seit dem Amtsantritt von Giorgia Meloni vor bald einem Jahr ohnehin sehr abgekühlt miteinander umgehen. Und natürlich steht das ganze westliche Verteidigungsbündnis Nato im Fokus, in dessen Rahmen solche Manöver abgestimmt werden.
Der 85-jährige Amato aber sieht die Zeit gekommen, das alte Trauma endgültig zu bewältigen. Die Nato habe die Pflicht zur Aufklärung, um nicht noch unmenschlicher zu erscheinen, sagt er. In Frankreich sei mit Emmanuel Macron ein junger, unbelasteter Präsident im Amt, der doch für sein Land Verantwortung übernehmen und sich offiziell entschuldigen könnte.
In Paris gibt man sich gelassen: Die Prozesse sind geführt, und konkrete neue Beweise liefert Amato ja nicht. So fühlt sich auch niemand gedrängt, sich zu entschuldigen. Frankreich habe außerdem immer Rechtshilfe geleistet in dem Fall und werde das auch weiterhin tun, heißt es in einer Verlautbarung aus dem Außenministerium. Der Form nach stimmt das, wenigstens für die Zeit unter Präsident François Hollande und nun unter Macron. Allerdings zweifeln die Italiener daran, dass die Franzosen immer alles sagten, was sie dazu wissen. In manchen Aspekten der Affäre widersprach sich Paris in der Vergangenheit, so etwa zur genauen Position eines ihrer Flugzeugträger am Abend der Tragödie. Und überhaupt: An den französischen Militärarchiven aus jener Zeit kleben Siegel der Geheimhaltung, mindestens bis ins Jahr 2040.