Es lebt sich so schön, wenn man die wahren Probleme verdrängen kann. Es lebt sich noch besser, wenn man hehre Ziele ausruft, ohne über die Konsequenzen sprechen zu müssen. Die Deutschen und ihre Regierungen praktizieren das seit Langem und leben damit ausgezeichnet. Das hält aber nur so lange, bis diese Widersprüche aufbrechen.
In Deutschland können sich sehr viele Menschen immer wieder und ganz fürchterlich über US-Präsident Donald Trump aufregen. Sie können die EU bejubeln und deren Überleben als wichtigstes Ziel ausrufen. Sie können sich in der Flüchtlingspolitik trotz größter Differenzen ganz wunderbar auf das schöne Wort "Fluchtursachenbekämpfung" verständigen. Und beim angekündigten Versuch, die Gesellschaft zu versöhnen, rufen bis auf die AfD sowieso alle: Natürlich, das tun wir, das müssen wir machen.
Doch so wunderbar das klingt, weil an diesen Positionen im Grundsatz wenig falsch ist - so schwer erträglich ist Deutschlands Inkonsequenz. Kann man Trump abscheulich finden und sich in der Sicherheitspolitik trotzdem weiter auf ihn verlassen? Kann man die EU zur Schicksalsfrage erklären, ohne neue, andere und solidarischere Ansätze zu versuchen? Kann man die Fluchtursachen bekämpfen, ohne die eigene Handelspolitik zu ändern? Und: Kann man ein Land versöhnen, ohne Ostdeutsche, Migranten, Andersdenkende zu integrieren?
Nein, man kann das nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn eine Regierung ernst nimmt, was sie selbst über den neuen Koalitionsvertrag geschrieben hat: "Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land."
Zusammenhalt stärken und Spannungen abbauen
Herrlich ist zuletzt eine Fotografie aus dem Bundesinnenministerium gewesen. Herrlich im wahrsten Sinne des Wortes. Da wollte Horst Seehofer die neue Führungsriege seines Ministeriums via Twitter-Bild vorstellen - und erntete damit erst Ärger, dann Gelächter.
Ausgerechnet jener Minister, der sich mit dem Begriff Heimat im Titel besonders berufen fühlt, die Gesellschaft in Deutschland wieder zusammenzuführen, hat mit dem Foto gezeigt, welche Heimat er sich jedenfalls an der Spitze des eigenen Hauses vorstellt: Sie soll männlich und weiß bleiben. Man ist geneigt zu sagen: Trump lässt grüßen.
Aber so belustigend das wirkt, so problematisch ist es, wenn man es eben doch als Botschaft versteht. Als Botschaft, dass der Minister mit der größten Erfahrung nicht verstanden hat, was es heißt, wenn man sich keine Expertise aus anderen Lebenswelten holt - und wenn man mit derlei Auftritten große Teile der Bevölkerung ausgrenzt. Seehofer hat das nicht als bewusste Ausgrenzung beschlossen. Aber er wird so verstanden. Und er sollte sich darüber nicht wundern.
Die Spannungen und Spaltungen, mit denen Deutschland heute kämpft, haben nicht nur, aber auch mit mangelnder Repräsentation zu tun. Im Kabinett gibt es keinen einzigen Menschen mit Wurzeln aus einem anderen Land. Und es gibt genau eine Ministerin, die im Osten geboren wurde.
Nicht besser sieht es bei den Staatssekretären aus. Und das ist nur die konsequente Vollendung dessen, was bis heute in den meisten Parteien angelegt ist: zu wenige Frauen, zu wenige Menschen aus dem Osten, zu wenige Migranten. Das gleiche Bild bis heute in den meisten Verwaltungen, bei der Polizei, an Hochschulen oder beim Verfassungsschutz.
Nun ist das nicht immer gleich leicht zu ändern. Aber in der Politik, in Parteien, dort, wo der Vorbildcharakter besonders groß sein kann, gibt es bis heute nicht das Signal: Wir wollen eine integrative Politik in Deutschland.
Und das ausgerechnet in Zeiten, in denen die Ausgrenzungen zu nehmen und ein Miteinschließen aller umso wichtiger wäre. Mindestens jeder Fünfte in diesem Land ist Migrant oder hat entsprechende Wurzeln; knapp jeder Fünfte kommt aus oder lebt im Osten Deutschland. Es ist bitter nötig, in einer großen Koalition auch ihnen Gesichter und Stimmen zu geben. Erst so integriert man wirklich; und erst so schafft man Vorbilder, die es den Vorreitern nachtun möchten.
Der kanadische Premier Justin Trudeau wurde 2015 gefragt, warum er gleich viele Frauen wie Männer in sein Kabinett berufen habe. Seine Antwort war kurz: "Because it's 2015." Sein Signal: Es ist höchste Zeit, für Gleichberechtigung zu sorgen.
Die Wahl des neuen US-Präsidenten hat die Welt verändert. Das ist längst eine Binsenweisheit und trotzdem wird die schwerste Konsequenz bis heute gerne verschwiegen: Deutschland und Europa müssen mehr und mehr auf eigenen Füßen stehen.
Trump stellt die internationale Ordnung in Frage, er hält wenig von verlässlichen Bündnisbeziehungen, macht sich lustig über multilaterale Strukturen und tritt jahrzehntealte Bemühungen mit Füßen, zwischen den Staaten Verlässlichkeit und Regeln sicherzustellen. Anders ausgedrückt: Solange er regiert, sind die Vereinigten Staaten kein solidarischer Partner, sondern ein von egoistischen Prinzipien getriebenes Land - das immer noch sehr mächtig ist.
Europas Unabhängigkeit ist zwar ökonomisch relativ fortgeschritten. In sicherheitspolitischen Fragen aber hängen sie im Kindesalter fest. Das wird überdeckt durch Auslandseinsätze, die zwar hochriskant sind, aber bis heute nicht durch eine entschlossene, verlässliche Ausstattung der Bundeswehr gedeckt werden.
Bis heute vermeidet es die Bundesregierung, nicht nur einigermaßen wolkig über ein größeres deutsches Engagement zu reden, sondern auf den Rückzug der USA offen zu reagieren. Deutschland und die Europäer müssen sich militärisch ganz neu aufstellen, wenn sie nicht eines Tages in einer verheerend anderen Welt aufwachen möchten.
Der aktuelle Konflikt mit Russland, der sich seit Beginn der Ukraine-Krise immer stärker ausweitet, wirft ein Schlaglicht auf das Missverhältnis zwischen Moskauer Grenzverletzungen und den eigenen Möglichkeiten, sich im Zweifel zur Wehr zu setzen. Hier geht es nicht um neue Streitereien; es geht erst recht nicht um einen Krieg. Aber es geht um das Leben in einer Welt, in der Russland (und zunehmend die USA) einen nicht ernst nehmen, solange man sich nicht selber ebenbürtig stark macht. Man kann, ja muss das schrecklich finden. Aber eine verantwortungsvolle Regierung darf es nicht verdrängen.
Ja, das kostet Geld. Aber es ist in der heutigen Welt unverzichtbar. Das zu debattieren und zu begründen wäre in den Koalitionsverhandlungen Pflicht aller Beteiligten gewesen. Sich über Trump zu echauffieren, ohne sich unabhängig von ihm zu machen, das klingt schön - wird aber keinen Schritt weiter helfen.
Das Reden über die Bedeutung der EU droht zur leeren Floskel zu werden. Dabei liefert der Koalitionsvertrag in europapolitischen Fragen einen guten Anfang. Voller Stolz haben Union und Sozialdemokraten hervorgehoben, dass für sie das Thema Europa dieses Mal sehr bewusst und ganz entschlossen an erster Stelle steht. Das soll zeigen, wie wichtig dieser Regierung die Zukunft der Europäischen Union ist. Es soll beweisen, dass sich von der Kanzlerin abwärts alle im Kabinett für dieses wichtigste Zukunftsthema des Landes einsetzen werden.
Nichts daran ist falsch; ärgerlich ist nur, dass neben schönen Floskeln nichts konkret geworden ist. Nicht bei der Regierungserklärung von Angela Merkel, nicht bei den ersten Interviews ihres Vizekanzlers Olaf Scholz. Im Gegenteil: Beide betonten zwar, dass sie unbedingt und mit großer Leidenschaft für einen Neuanfang eintreten. Aber beide ergänzten das mit der zentralen Botschaft, eine Schuldenunion werde es auch in Zukunft nicht geben.
Offenkundig haben beide (und darüber hinaus auch viele andere in der Regierung wie in der Bevölkerung) nicht erkannt, dass diese Rhetorik nur einen Eindruck vermittelt. Den Eindruck, dass sich im Grundsatz nichts ändert. Dass also alles beim Alten bleibt mit einem Deutschland, das in der Euro-Krise härteste Reformen und in der Flüchtlingskrise mehr Solidarität einforderte. Einem Deutschland, das erst Härte und Egoismus vorlebte und dann mangelnde Solidarität beklagte. Und das in Sonntagsreden für diese EU schönste Worte findet, aber von Montag bis Samstag mit den sozialen Nöten vieler EU-Südländer möglichst wenig konfrontiert werden möchte.
Es gibt keine einfachen und wahrscheinlich auch keine schnellen Lösungen. Aber es muss das Signal geben, dass Deutschland als größtes Land Solidarität großschreibt. Das wäre im Übrigen ein Signal, das man in Brüssel versenden und an die eigene Bevölkerung, auch die eigenen Anhänger, richten müsste. Von Deutschland als Zahlmeister redet die CDU lauter und die SPD etwas leiser. Dieses Gerede muss ersetzt werden durch das Bekenntnis, dass Deutschland mit seinen riesigen Exportüberschüssen Hauptprofiteur der Union ist.
Wer nach China schaut, nach Russland und in das Amerika Donald Trumps, der weiß: Jetzt geht es um Zukunft und Zusammenhalt. Beides bekommt man nicht mit schönen Worten; beides ist nur mit echter Solidarität zu haben.
Wer verdrängt, tut so, als habe etwas keine Folgen
Verdrängung - dieses Wort beschreibt einen Prozess, bei dem man wegschaut, sich nicht kümmern mag, die Konsequenzen einer Entwicklung oder auch des eigenen Handelns nicht wahr haben möchte. In bestimmten Situationen, zum Beispiel nach einem schweren Trauma, gilt Verdrängung als Schutzmechanismus.
In den allermeisten Fällen aber halten Psychologen sie für hochproblematisch. Der Grund: Man tut so, als habe etwas keine Folgen, als zwinge es einen nicht zu Konsequenzen. Das ist, wieder jeder weiß, ein Irrtum. Es wird Zeit, dass Deutschland sich seiner Verdrängungen bewusst wird.