Extremismus:Chemnitzer appellieren an demokratisch denkende Mehrheit

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„Chemnitz ist weder grau noch braun“: Zwei Männer befestigen am Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz ein Plakat. (Foto: Monika Skolimowska)

Chemnitz (dpa) - In Chemnitz wappnet sich die Polizei für mögliche neue Auseinandersetzungen. Tausende Menschen werden heute zu Demonstrationen erwartet. Die Polizei geht von einer Teilnehmerzahl im unteren fünfstelligen Bereich aus.

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Chemnitz (dpa) - In Chemnitz wappnet sich die Polizei für mögliche neue Auseinandersetzungen. Tausende Menschen werden heute zu Demonstrationen erwartet. Die Polizei geht von einer Teilnehmerzahl im unteren fünfstelligen Bereich aus.

Ein Bündnis aus rund 70 Vereinen, Organisationen und Parteien hatte zu Demonstrationen unter dem Motto „Herz statt Hetze“ aufgerufen. Mehrere Politiker wie die Parteichefin der Grünen, Annalena Baerbock, haben sich angesagt. Am Nachmittag sind Kundgebungen der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz sowie ein Trauermarsch der AfD und des fremden- und islamfeindlichen Bündnisses Pegida geplant. Dazu wird auch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke erwartet.

Zum Start der Kundgebungen zogen rund 50 Menschen für ein friedliches Miteinander durch Chemnitz. Nach Diskussionen, Reden und Musik am Roten Turm in der Innenstadt setzte sich der Zug in Bewegung. Die Route durch die Stadt führte auch unweit des Tatorts vorbei, wo es vor knapp einer Woche zu der tödlichen Messerattacke auf einen 35-jährigen Deutschen gekommen war.

Chemnitzer Bürger, Unternehmer und Wissenschaftler klebten einen Aufruf an ihre Mitbürger an den berühmten „Nischel“. Auf dem Plakat am Sockel des Karl-Marx-Monuments steht: „Chemnitz ist weder grau noch braun“. Und auf der Internetseite der Initiative #wirsindmehr heißt es: „Womit wir nicht leben können, sind Hass, Gewalt, Intoleranz und vor allem Wegschauen.“ Das sei der Nährboden, auf dem Demokratiefeindlichkeit wachse. „Das macht Angst. Aber aus der entsteht der Mut, den es jetzt von uns Bürgern braucht.“

Vor knapp einer Woche war ein 35-jähriger Deutscher bei einer Messerattacke in Chemnitz getötet worden, zwei weitere wurden verletzt. Als Tatverdächtige sitzen ein Iraker und ein Syrer in Untersuchungshaft.

Dem Verwaltungsgericht Chemnitz zufolge hätte der Iraker im Mai 2016 nach Bulgarien abgeschoben werden können. Dies sei aber nicht vollzogen worden, weshalb die Überstellungsfrist von sechs Monaten abgelaufen sei. Auch soll er einem Medienbericht zufolge gefälschte Personaldokumente besessen haben.

Die Tat war Anlass für Demonstrationen, aus denen heraus es zu ausländerfeindlichen Attacken kam. Auch der Hitlergruß wurde gezeigt.

Bei den Ausschreitungen am vergangenen Montag hat laut der „Welt am Sonntag“ eine schwere Panne bei der Polizei zur Unterbesetzung geführt. Es seien sehr wohl zusätzliche Kräfte der Bundespolizei als Verstärkung angefordert worden, berichtet die Zeitung.

Das Innenministerium in Dresden habe auf Anfrage bestätigt, dass es während des Einsatzes am Abend einen Hilferuf der Polizeidirektion Chemnitz ans Lagezentrum des Innenministeriums gab und die Bundespolizeiinspektion Pirna um Unterstützung gebeten wurde. Das sei allerdings kurzfristig nicht möglich gewesen.

Zuständig für derartige Anforderungen wäre laut der Zeitung aber das Bundespolizeipräsidium in Potsdam und nicht die untergeordnete Dienststelle in Pirna gewesen. Dieser übliche Meldeweg sei „unverständlicherweise“ nicht beschritten worden. Dabei hätten mehrere Hundertschaften nach Chemnitz beordert werden können, bei Bedarf auch mit Hubschraubern.

Am Montagabend standen 6000 Demonstranten aus dem eher rechten Spektrum, darunter gewaltbereite Neonazis und Hooligans, etwa 1500 Gegendemonstranten gegenüber - dazwischen knapp 600 Polizisten. Es gab mindestens 20 Verletzte, unter ihnen zwei Polizisten.

Außenminister Heiko Maas rief vor den erneuten Demonstrationen und anlässlich des 79. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkrieges zu einem entschlossenen Eintreten für Demokratie auf. „Vor 79 Jahren begann der 2. Weltkrieg. Deutschland brachte unvorstellbares Leid über Europa“, schrieb der SPD-Politiker bei Twitter. „Wenn heute wieder Menschen mit Hitlergruß durch die Straßen ziehen, bleibt unsere Geschichte Mahnung und Auftrag, entschlossen für Demokratie einzutreten. #Chemnitz #herzstatthetze #C0109“

Bundesjustizministerin Katarina Barley warnte vor einer sich verschärfenden Missachtung des Rechtsstaates in Deutschland. „Für die Errungenschaften unseres Rechtsstaates, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte, dafür müssen wir alle einstehen“, sagte die SPD-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur. Mit Blick auf die Ereignisse in Chemnitz mahnte sie die sächsischen Behörden, dass es Konsequenzen für alle Täter geben müsse.

Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) hält Ausschreitungen wie in Chemnitz auch in anderen Städten für möglich. Zu den Ausschreitungen seien Rechtsextreme aus ganz Deutschland angereist, sagte sie der dpa. Die Rechten seien extrem gut vernetzt. Solche Proteste seien in jeder Stadt denkbar, in der es ähnlich brutale Vorfälle gebe.

Der AfD-Co-Vorsitzende Alexander Gauland mahnte eine Aufklärung der Messerattacke an und verurteilte das Zeigen des Hitlergrußes bei den bisherigen Demonstrationen. Im „Interview der Woche“ des Deutschlandfunks prangerte er an, dass sich Hooligans und Rechtsradikale auf eine Demonstration oder eine Versammlung besorgter Chemnitzer Bürger gesetzt und auch missbraucht hätten. Das wichtigere Thema sei „der Tod eines Unschuldigen durch zwei Menschen, die nicht hier sein dürften und die nicht hier wären, hätte es Frau Merkels Flüchtlingspolitik nicht gegeben“.

Justizministerin Barley hatte zuvor dem Südwestrundfunk gesagt: Wer auf einer Demo unterwegs sei, „wo die Leute rechtsradikale Sprüche brüllen, Menschen angreifen und den Hitlergruß zeigen, der kann sich nicht mehr verstecken und sagen: „Ich bin ja nur ein besorgter Bürger“. Dann ist man Teil eines rechtsradikalen Mobs.

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