Bis vor einem Jahr hätte man von einem typischen Angela-Merkel-Moment gesprochen. Es braucht gerade jemanden in der Europäischen Union, der Gemüter beruhigt, Kompromisse auslotet, Bündnisse schmiedet. Aber im Berliner Kanzleramt regiert jetzt Olaf Scholz, und als ehrlicher Makler europäischer Interessen wird er auch nach einem Jahr im Amt nicht wahrgenommen - weit davon entfernt. Es gibt in Brüssel hochrangige Menschen, die Merkel gerade aufrichtig vermissen - vor einer wegweisenden Woche, in der sich die EU aus einer gefährlichen Blockade lösen muss. Schuld daran trägt vor allem Viktor Orbán.
Der Ungar kämpft um insgesamt mehr als 13 Milliarden Euro aus EU-Töpfen. Sie werden ihm von der Kommission verweigert wegen der Korruption in Orbán-Land und seiner Angriffe auf die unabhängige Justiz. Eine Entscheidung, ob das Geld ausgezahlt wird oder nicht, müssen kommende Woche die Mitgliedsländer treffen. Deshalb nimmt Orbán Entscheidungen in Geiselhaft, die Einstimmigkeit erfordern: die 18 Milliarden Budget-Hilfe für die Ukraine, eine neue Sanktionsrunde gegen Russland, die Mindestbesteuerung für Großkonzerne. Er will die Milliarden freipressen. Was nun hinter den Kulissen gerade gespielt wird, nennt man in Brüssel wahlweise "Poker" oder "Schwarzer Peter". Manche sprechen auch von "Basar".
Die Mitgliedsländer haben, um Wege aus der Blockade auszuloten, in dieser Woche die Kommission um eine neue Einschätzung gebeten: Hat Orbán Reformschritte nach der vereinbarten Deadline 19. November eingeleitet, die man ihm strafmildernd auslegen könnte? Die Antwort, die am Freitag aus der Behörde von Ursula von der Leyen kam, lautet: Nein. Sie empfiehlt weiterhin, Haushaltsmittel in Höhe von 7,5 Milliarden Euro im Rahmen des "Rechtsstaatsmechanismus" zu sperren, bis Orbán alle geforderten Reformen umsetzt. Es soll keinen Rabatt geben.
Die anderen Staats- und Regierungschefs haben Mittel, Orbán ihrerseits zu erpressen. Denn für den Ungarn stehen auch noch 5,8 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds auf dem Spiel. Die Kommission empfiehlt, das Geld im Grundsatz freizugeben, gekoppelt an strenge Auflagen. Wird der Verwendungsplan bis Jahresende nicht bewilligt, sind laut Regeln des Fonds 70 Prozent des Geldes verloren. Das kann sich Orbán eigentlich nicht leisten. Außerdem wächst in vielen Regierungen die Bereitschaft, wichtige Projekte wie die Ukraine-Hilfe notfalls auch ohne ihn umzusetzen. Erforderlich für eine Entscheidung im Rat der Mitgliedsländer ist eine "qualifizierte Mehrheit", das sind in etwa zwei Drittel der Stimmen. Aber wer mit wem paktiert, weiß niemand - zumal sich am Donnerstag eine neue Kluft in der EU auftat.
Die österreichische Regierung verhinderte die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in den grenzkontrollfreien Schengenraum. Bundeskanzler Karl Nehammer wollte angesichts der hohen Zahl von Migranten, die in Österreich Zuflucht suchen, den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen. Rumänien und Bulgarien würden nicht ausreichend gegen die illegale Migration unternehmen, lautete die Botschaft. Sie ging auf Kosten der Glaubwürdigkeit europäischer Prozesse, denn beide Länder hatten wie Kroatien nach dem Urteil der EU-Kommission die Aufnahmekriterien erfüllt.
Nehammer tat nichts anderes als Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, als sie einem privaten Rettungsschiff unter französischer Flagge die Aufnahme in italienischen Häfen verweigerte: Er nutzte das sensible Thema der Migration, um sich innenpolitisch auf Kosten Europas zu profilieren. Zum italienisch-französischen Streit kommt nun also der Ärger in Osteuropa über Österreich und die Niederlande, deren Minister zwar für Rumänien, aber gegen Bulgarien gestimmt hatte. Die rumänische Regierung bestellte den österreichischen Botschafter ein, es fliegen Verbalinjurien von Bukarest nach Wien. Und Viktor Orbán kann sich als vorbildlicher Europäer aufspielen. Sein Minister stimmte für die Aufnahme von Kroatien, Rumänien und Bulgarien.
Am Mittwoch und Donnerstag treffen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Adressat solcher Gipfel ist immer auch Wladimir Putin, der spüren soll, dass ihm die EU einig gegenübertritt. Aber ist sie das noch? Man wird womöglich wieder um das Endlos-Thema eines Gaspreisdeckel ringen, was schwierig genug ist. Aber niemand weiß, ob der Brüsseler Basar um Orbán auch noch in dieser Runde ausgetragen wird. Viele glauben, dass der Ungar vorher seine Blockade aufgibt - weil er nicht riskieren wolle, auf großer Bühne abgestraft zu werden als illiberaler Antidemokrat, der nicht mehr zur europäischen Familie gehört. Aber sicher ist sich niemand.