Europäische Union:Brainstorming zur Geisterstunde

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (rechts) kam als Letzter - und hatte konkrete Forderungen. (Foto: Ludovic Marin/AFP)

Frankreichs Präsident Macron drängt die EU beim informellen Gipfel in Slowenien zu mehr Eigenständigkeit, auch gegenüber den USA - aber manche Partner zweifeln noch

Von Björn Finke, Josef Kelnberger und Matthias Kolb, Brdo pri Kranju/Brüssel

Emmanuel Macron traf als Letzter auf Schloss Brdo ein, eineinhalb Stunden zu spät und überaus lässig. Frankreichs Präsident schritt wie selbstverständlich voran, an der Seite von Gastgeber Janez Janša, dem slowenischen Ministerpräsidenten, als die Führungsriege der Europäischen Union sich am Dienstagabend durch den dunklen Schlosspark auf den Weg zum beliebten "Familienfoto" machte. Bevor die informellen Beratungen der 27 Staats- und Regierungschefs über die globale Rolle der EU beginnen konnten, skizzierte Macron in einem zweiminütigen Statement gestochen scharf, was er erwartet von Europa: das Ende der Lethargie, einen Aufbruch. Europa müsse eigenständiger werden, auch im Umgang mit den USA: politisch, militärisch, wirtschaftlich. Aber dazu müsse Europa erst einmal klären, was es eigentlich wolle.

Fraglich, ob Macron bei seiner Abreise schlauer war. Welchen Weg wird Europa nach den Turbulenzen rund um den Afghanistan-Abzug und das Aukus-Bündnis zwischen USA, Australien und Großbritannien nehmen? Wer will Macrons Vision folgen? Die Zusammenfassung der Debatte, die bis weit nach Mitternacht dauerte, präsentierte EU-Ratspräsident Charles Michel. Sie war ein beherztes "Sowohl als auch" und ein Appell zur "Geschlossenheit". Doch bis diese erreicht ist, liegt noch ein langer Weg vor den EU-27 und vor Macron. Am Mittwochvormittag war der Franzose zu beobachten, wie er allein unter dem Schirm durch die Sturzfluten lief, die aus dem slowenischen Himmel fielen.

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Der Gipfel in Slowenien wird es wieder zeigen: Für die sechs Westbalkan-Staaten gibt es trotz aller gegenteiliger Bekundungen noch immer keine reale Aussicht, jemals Mitglied der EU zu werden. Nur Trostpflaster.

Von Josef Kelnberger und Matthias Kolb

Den Verlauf des abendlichen Gesprächs wollte Macron vor seiner Abreise gar nicht mehr groß kommentieren. Er verwies allerdings darauf, dass die EU sich grundlegend neu erfinden müsse - auch, was ihre innere Verfasstheit betrifft. Das sei auch Voraussetzung, um neue Staaten aufzunehmen, vor allem die Länder des Westbalkans, die in die EU drängen und in Brdo mit einem 30-Milliarden-Euro-Hilfspaket bedacht wurden. Außenpolitische Entscheidungen nach dem Prinzip der Einstimmigkeit zu treffen etwa, sei nicht mehr zeitgemäß, findet Macron.

In dem Punkt fand er auch Verständnis bei Angela Merkel. Das Ringen um eine geopolitische Neuausrichtung der EU nannte sie eine "spannende Diskussion". Aber sie mag es lieber konkreter. "Wenn wir in den Indopazifik schauen, aber die Probleme vor der eigenen Haustür nicht lösen können", sagte sie mit einem Blick auf den Westbalkan, "dann hat das auch mit Glaubwürdigkeit zu tun." Die Aufnahme der sechs Länder sei von überragendem geopolitischem Interesse für die EU.

Was kann die EU für unsere Verteidigung tun?

Die Debatte über Geopolitik wurde von manchen Delegationen als unstrukturiert bezeichnet; der Niederländer Mark Rutte sprach von "Brainstorming". Macron betonte zwar, dass es kein Widerspruch sei, einerseits die bestehenden Allianzen mit den USA und der Nato zu pflegen und andererseits eigene Fähigkeiten aufzubauen, doch der Widerstand bleibt. Vor allem die ost- und nordeuropäischen Länder sehen den Schutz vor Russlands durch die USA und dessen übermächtiges Militär in Gefahr, wenn Macron von "europäischer Autonomie" spricht. Sie fragten: Was kann denn die EU für unsere Verteidigung tun, wenn die USA ausfallen? Experten sind sich einig, dass es Jahrzehnte dauern würde, wenn die Europäer auch nur einen Teil der US-Kapazitäten aufbauen wollten.

Plötzlich gerät ein Prozess in den Fokus, an dem EU-intern seit Monaten gearbeitet wird. Mitte November wird der Außenbeauftragte Josep Borell den Entwurf für den "Strategischen Kompass" vorlegen. Diesen hatte die Bundesregierung während ihrer EU-Ratspräsidentschaft 2020 eingeleitet, damit die 27 EU-Mitglieder erstmals eine gemeinsame Bedrohungsanalyse auf Grundlage nachrichtendienstlicher Erkenntnisse erhalten. Die baltischen Republiken, die einst von der Sowjetunion besetzt wurden, haben andere Sorgen und Ängste als etwa Portugal oder Griechenland - diese Gegensätze will man überbrücken. Zugleich könnte festgeschrieben werden, welche militärischen Fähigkeiten die EU aufbauen soll.

Die Staats- und Regierungschefs werden Mitte Dezember über den Kompass beraten, bevor dieser mit Glanz und Gloria im März bei einem Gipfel beschlossen werden soll - wohl in Paris und im Rahmen der französischen Ratspräsidentschaft, wenige Wochen bevor sich Macron seinen Landsleuten zur Wiederwahl stellt. Vor dem Nato-Gipfel, für den auch US-Präsident Joe Biden im Juni nach Madrid kommen wird, will die EU eine neue politische Erklärung mit der Militärallianz unterzeichnen. Als ehemalige Verteidigungsministerin hat Kommissionschefin Ursula von der Leyen einen guten Draht zu Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, den sie zu nutzen gedenkt. Für sie ist klar: "Alle unsere Anstrengungen sind komplementär zur Nato, aber sie geben der EU die Fähigkeit zu handeln."

Ganz im Sinne Macrons hat Ratspräsident Michel 2022 zum "Jahr der Verteidigung" ausgerufen, aber es bleiben viele Hürden. Werden die EU-Regierungen, die wegen der Pandemie viele Schulden aufgenommen haben, wirklich bereit sein, sehr viel mehr Geld in Rüstung zu investieren, um den europäischen Pfeiler im transatlantischen Bündnis stärken zu können?

Vage Versprechen für Länder wie Kosovo

Macron wird weiter Überzeugungsarbeit leisten müssen. Die meisten Partner wundern sich über die wütende Reaktion der Franzosen auf den geplatzten U-Boot-Deal mit Australien und die scharfe Rhetorik gegenüber den USA. In der EU verdächtigen manche Macron, er wolle europäische Solidarität mobilisieren, um den USA ein Kompensationsgeschäft abzutrotzen, von dem französische Firmen profitieren. Mittlerweile steht fest, dass sich Biden und Macron Ende Oktober am Rande des G-20-Gipfels treffen werden, weshalb US-Außenminister Antony Blinken gerade Paris besucht hat und mit Macron sprach. Offen bleibt aber weiter, wie Macron die EU-Partner in die Gespräche mit Washington einbinden will und was Paris als Kompensation für das durch Aukus zerstörte Vertrauen verlangen will.

Am Mittwoch drehte sich in Brdo fast alles um die Beziehungen der EU zu den sechs Ländern des Westbalkans, die alle in die EU wollen. Drei Stunden berieten die Staats- und Regierungschefs mit den Vertretern aus Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Kosovo sowie Bosnien-Herzegowina und verabschiedeten die "Erklärung von Brdo". In der Erklärung wird das Wort "Erweiterung" zwar erwähnt, aber die Beitrittsperspektive ist doch sehr vage. Von der Leyen forderte die Regierungen auf, ihre Anstrengungen fortzusetzen und etwa Korruption zu bekämpfen. Sie äußerte aber auch Verständnis für den "Frust und die Ungeduld" der Menschen in der Region. In den kommenden sieben Jahren wollen die EU-Länder etwa 30 Milliarden Euro für die Region mobilisieren, vor allem über neue Garantien. Derweil wird die EU weiterhin Grundsatzdebatten führen.

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