Auf der Suche nach ihrer Bedeutung für die Welt haben sich die Regenten der EU-Staaten ins slowenische Kranj verirrt, eine jener typisch europäischen Provinzresidenzen, in der die Verwerfungen, Gebietsveränderungen, Kriegsnarben und Kulturbrüche des Kontinents in Stein gehauen wurden. Es ist ja eines der bezeichnenden Merkmale dieses Erdteils, dass man vom Herzogtum Krain über Mantua bis nach Geldern keine Mühe hat, Europa nach wie vor in Kleinstteile und Befindlichkeitszonen zu portionieren. Nur so kann man aber auch ermessen, welche gewaltige Errungenschaft es ist, aus diesem politischen und ökonomischen Stückwerk ein ansehnliches Werkstück geschaffen zu haben: die Europäische Union.
Wie schwer es ist, dieses leider zerbrechliche Gebilde geeint zu halten, zeigt allein am Tag des EU-Gipfels das Urteil des Europäischen Gerichtshofs über die polnische Richterpolitik, die gefährlichen Verwerfungen über die Energieversorgung oder der aufflammende Fischereistreit in der Nordsee. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Europa schafft es nicht, den Blick zu heben und nach außen zu wenden. Schon die Sicht auf den Westbalkan, nur wenige Kilometer von Kranj entfernt, ist vernebelt.
Dabei müssten die Staats- und Regierungschefs nicht einmal weit schauen: In Zürich verhandeln zur selben Zeit die obersten Präsidentenberater Chinas und der USA über die Machtverteilung auf der Welt und damit auch über das Schicksal Europas - freilich ohne dass dieses Europa mit am Tisch säße.
Hilflos in der Königsklasse
Der Wunsch nach mehr Bedeutung und Einfluss eint die EU-Obersten, sie spüren schmerzlich ihre Ohnmacht vor China, den USA oder auch nur vor den russischen Cyber- oder Gasprovokationen. Es fehlt der Konsens, den verfehdeten Balkanstaaten ein unwiderstehliches Angebot zu machen. Es mangelt an Entschlossenheit, den Verkaufs-Monopolisten im Energiegeschäft als Käufer-Monopol gegenüberzutreten. So erfährt die EU allzu oft das Schicksal, das einst auch dem Herzogtum Krain gegolten hat: zu machtlos, als dass es sein Schicksal selbst hätte bestimmen können.
Der Wunsch nach mehr europäischer Souveränität entspringt also einem sehr konkreten operativen Bedürfnis - aber er endet auch sehr schnell in operativer Unfähigkeit. Die Staaten der Europäischen Union erfahren ihre Grenzen in Afghanistan, in Mali oder im Ägäis-Streit mit der Türkei. Sie haben ein gewaltiges Marktgebilde geschaffen, eine verlässliche und kraftvolle Pumpstation für die globalen Wirtschaftsströme. Aber sie bleiben macht- und ideenarm, wenn in der Königsklasse der Geopolitik zum Spiel gerufen wird.
Das Zauberwort zum Verständnis dieses Mangels heißt Souveränität. Die Europäische Union hat zu wenig davon, ihre Mitgliedstaaten haben zu viel. Wenn Frankreichs Präsident diesen Zustand ändern will, dann hören 26 andere Präsidenten und Regierungschefs nur, dass sie ihre Macht und Herrlichkeit aufzugeben hätten. Und tatsächlich tritt man Emmanuel Macron nicht zu nahe, wenn man ihm unterstellt, dass er selbst kaum bereit dazu wäre, U-Boote künftig nur noch als europäische Gemeinschaftsware zu verkaufen.
Die Europäische Union ist gefangen im selben Dilemma wie einst seine Herzogtümer: zu machtlos, um im Weltgetöse zu bestehen; zu stolz, um zum Ziel neuer Stärke alte Macht aufzugeben. Kranj lebt fröhlich fort, selbst wenn es längst nicht mehr existiert.