EU-Impfstrategie:Eine Frage - keine Antwort

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Schon 35 Millionen in der EU produzierte Impfstoff-Dosen verschiedener Hersteller wurden bisher exportiert: Abfüllanlage von Biontech in Marburg. (Foto: picture alliance/dpa/Biontech)

Die EU kritisiert die Briten, weil sie keinen Impfstoff außer Landes lassen. Die keilen nun zurück. Wer hat recht?

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Als belgischer Ministerpräsident hat Charles Michel gelernt, Kompromisse zu finden und allen Beteiligten ihre Erfolge zu lassen. Das muss er nun auch als EU-Ratspräsident können. Seine Aufgabe ist es, zwischen 27 Regierungen zu vermitteln - was immer schwieriger wird, je länger die Corona-Pandemie dauert. Dass Michel die schleppend anlaufende EU-Impfkampagne am Dienstag in seinem Newsletter verteidigt hat, verwundert da nicht. Für Aufsehen sorgte indes seine Kritik an den USA und an Großbritannien. Beide Länder, sonst Partner der EU, hätten ein "regelrechtes Ausfuhrverbot für Impfstoffe oder deren Komponenten" erlassen, klagte Michel.

Nach wütenden Reaktionen aus London, wo die Regierung von Boris Johnson eine Entschuldigung für diese "Falschbehauptung" forderte, rechtfertigt sich der Ratspräsident. Sein Interview mit dem Newsportal Politico zeigt: Die Zeichen stehen nicht auf Entspannung. "Ich bin selbst Politiker, also weiß ich, dass es verschiedene Arten gibt, um ein Ausfuhrverbot oder Beschränkungen bei Impfstoffen und Arzneimitteln zu verhängen", sagt Michel. Wie viele Europaabgeordnete fordert er Auskunft von den Briten: "Wie viele Dosen Impfstoff haben sie exportiert? Auf die einfache Frage habe ich keine Antwort erhalten."

Von EU-Diplomaten gibt es zwar leise Kritik an der "schlampigen" Formulierung, aber Michels Analyse wird geteilt. Denn die Abmachungen der Briten mit dem Hersteller Astra Zeneca geben dem Heimatmarkt Vorrang, was faktisch ein Ausfuhrverbot bedeutet. Dieser "UK-first-Vertrag" verärgert etwa Peter Liese, den gesundheitspolitischen Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament. "Wenn Europa die Welt beliefert, während alle anderen nur an sich selbst denken, dann kann die Sache nicht aufgehen", klagt der CDU-Politiker. Am Mittwoch informierte die Kommission die 27 EU-Botschafter, dass etwa 35 Millionen Dosen Covid-Impfstoff exportiert worden seien. Davon ging ein Viertel nach Großbritannien, eine Million Dosen gingen in die USA. Auch der Impfweltmeister Israel wird vor allem aus Belgien versorgt.

Michel nennt es "unfair", der EU "Impfnationalismus oder Protektionismus" vorzuwerfen. Man habe sich gegen Vertragsklauseln entschieden, die jenen der Briten ähneln, weil die Pandemie weltweit bekämpft werden müsse. Auch wenn es wie ein Klischee klinge, so Michel, bleibe eine Aussage wahr: "Niemand ist geschützt, solange nicht alle geschützt sind." Er sehe es als seine Aufgabe an sicherzustellen, dass Europa respektiert werde und seine Entscheidungen verstanden würden. Diese Aussage ist bemerkenswert angesichts immer lauterer Rufe, die EU dürfe auch ein totales Exportverbot für Impfstoffe nicht ausschließen, wie es der CDU-Mann Liese etwa fordert.

Am Donnerstag jedenfalls teilte die EU-Kommission mit, dass die im Januar eingeführte Exportkontrolle für Corona-Impfstoff um weitere drei Monate bis Ende Juni verlängert würde. Pharmakonzerne, die mit der EU Lieferverträge geschlossen haben, müssen Genehmigungen beantragen, wenn sie Drittstaaten beliefern wollen. Bisher wurden 249 Anträge genehmigt - und nur einer abgelehnt. Dabei ging es um den Export von 250 000 Dosen des Impfstoffs von Astra Zeneca nach Australien, den Italien gestoppt hatte, weil der britisch-schwedische Hersteller seine vertraglichen Zusagen an die EU nicht voll erfüllt.

Mit Kritik an den USA halten sich die Europäer zurück

Auffällig ist jedoch, dass sich die Europäer mit der Kritik an den USA zurückhalten. Der CDU-Abgeordnete Liese ist einer der wenigen; er hält dem neuen US-Präsidenten Joe Biden direkt vor, sich wie Donald Trump zu verhalten. Die EU-Kommission verweist lediglich darauf, dass der zuständige Industriekommissar Thierry Breton zahlreiche Gespräche führe. Allzu gut kam Bidens jüngste Ankündigung, weitere 100 Millionen Dosen des Impfstoffs von Johnson & Johnson zu kaufen, in Europa jedoch nicht an. Auch wenn der Impfstoff nun in Europa ebenfalls zugelassen ist, erscheint es fraglich, ob bis Juli 55 Millionen Dosen ausgeliefert werden können. Der Rückstand der Europäer bei den Impfungen gegenüber Briten und Amerikanern wird wohl noch eine Weile anhalten. Die Debatten über Europas Impfstrategie dürften also nicht weniger emotional verlaufen.

Die Probleme bei der Impfstoffbeschaffung wurden am Donnerstag auch unter den Fraktionsvorsitzenden im Europaparlament diskutiert. Die Linken fordern einen Untersuchungsausschuss, der Versäumnisse von EU-Kommission und Mitgliedstaaten aufarbeiten soll. Bereits Anfang der Woche hatte Fraktionschef Martin Schirdewan den anderen Parteien einen fünfseitigen Arbeitsauftrag für das Gremium geschickt, das nach sechs Monaten einen Zwischenbericht präsentieren sollte. Doch bisher erhielt er keine Unterstützung. Um solchen Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Kontaktgruppe angeregt. Damit will die Kommission die Abgeordneten auf dem Laufenden halten. Schirdewan will sich damit nicht zufriedengeben. Die Linken-Fraktion werde das Thema weiter vorantreiben, "doch es wird schwer, da eine Mehrheit zu finden".

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