Krieg in Nahost:Die EU versucht zu retten, was kaum noch zu retten ist

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Haben schon länger ein angespanntes Verhältnis: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel nach dem virtuellen Gipfel am Dienstagabend. (Foto: Johanna Geron/Reuters)

Bei einem virtuellen Gipfeltreffen sprechen die Europäer über ihre Haltung im Nahost-Konflikt. Zuvor hatten interne Streitereien die Risse in der Union offengelegt - und zu einem außenpolitischen Debakel geführt.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Nach einer Woche heftigen Gezerres um die Haltung der Europäischen Union im Nahostkonflikt haben die Regierungen der Mitgliedsländer am Dienstagabend eine Art diplomatische Notbremse gezogen: Die 27 Staats- und Regierungschefs schalteten sich zu einem virtuellen Gipfeltreffen zusammen, bei dem sie über humanitäre Hilfe für die Palästinenser, die Zusammenarbeit mit arabischen Staaten zur Beilegung des Konflikts, mögliche Flüchtlingsbewegungen aus der Region und die Terrorbedrohung berieten.

Allerdings ging es bei dem Gespräch weniger um politische Beschlüsse. Vor allem sollte die Sitzung ein Signal der Geschlossenheit senden - an die Welt ebenso wie in die EU hinein. Es sei "gut, dass der Fokus jetzt endlich wieder darauf liegt, was die EU an konkreter Unterstützung leisten kann", anstatt auf den internen Streitereien, sagte ein EU-Diplomat.

Hat Kommissionspräsidentin von der Leyen ihr Mandat überschritten?

In den vergangenen Tagen hatten europäische Regierungsvertreter mit wachsendem Entsetzen zugesehen, wie in Brüssel der seit Langem schwelende Machtkampf zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel eskaliert war. Von der Leyen hatte sich nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel mit mehr als 1300 Toten vor zehn Tagen schnell und weitgehend bedingungslos im Namen der EU an die Seite des überfallenen Lands gestellt. Ohne Absprache mit Michel besuchte sie am vergangenen Freitag Israel und sicherte dort Europas Solidarität zu. Das brachte ihr die Kritik ein, sie überschreite ihr Mandat und maße sich außenpolitische Befugnisse an, die sie gemäß den EU-Regeln nicht habe.

Aus dem Umfeld Michels, aber auch aus dem des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell wurde von der Leyen vorgeworfen, die israelische Regierung nicht deutlich und offen auf die Grenzen hingewiesen zu haben, die das humanitäre Völkerrecht Israel bei militärischen Schlägen gegen die Hamas setzt. Die palästinensische Terrororganisation hat sich im dicht besiedelten Gazastreifen verschanzt, jede Militäraktion dort birgt das Risiko, dass auch palästinensische Zivilisten sterben. Berichten zufolge sind bereits mehrere Tausend Menschen bei israelischen Gegenangriffen getötet worden.

Anders als von der Leyen haben Michel und Borrell deswegen nicht nur Israels Recht auf Selbstverteidigung betont, sondern auch die völkerrechtlichen Pflichten. Sie werden dabei von einem Teil der EU-Staaten unterstützt, zum Beispiel Spanien und Irland, die traditionell den Palästinensern gegenüber freundlich eingestellt sind. Andere Länder sind hingegen deutlich zurückhaltender, was Mahnungen an Israel angeht. "Äquidistanz zu beiden Parteien kann nicht die Antwort der EU nach diesem Angriff sein", sagt ein Diplomat. "Damit würde sie sich als Akteur selber aus dem Spiel nehmen."

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Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel können einander nicht ausstehen. Das ist im Alltag schon schlimm genug. Doch nun, während des Kriegs in Nahost, stürzen die beiden die EU in ein diplomatisches Debakel.

Kommentar von Hubert Wetzel

Dass Michel und von der Leyen sich nicht leiden können, ist kein Geheimnis

Erst am Sonntag gelang es den 27 EU-Ländern, sich auf eine gemeinsame Erklärung zu dem Konflikt zu einigen. Darin wird einerseits Israels Recht auf Selbstverteidigung "angesichts derart gewaltsamer und willkürlicher Angriffe" unterstrichen, andererseits in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen auch zwei Mal auf das Völkerrecht verwiesen - einmal auf das "humanitäre und internationale Recht", einmal auf das "humanitäre Völkerrecht". Trotz dieser etwas holperigen Formulierungen werteten Diplomaten die Erklärung als Erfolg. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern spaltet die Europäische Union tief, vor diesem Hintergrund sei es gut, dass eine gemeinsame Linie gefunden worden sei, hieß es.

Doch die Erklärung und der eilig anberaumt virtuelle Gipfel ändern wohl nichts mehr an dem desaströsen Bild, das die EU in den vergangenen Tagen abgegeben hat: Von der Leyen besuchte Israel, währenddessen twitterte Michel aus Brüssel Spitzen gegen sie. Und aus China meldete sich Borrell zu Wort und stellte öffentlich die außenpolitische Kompetenz der Kommissionspräsidentin - seiner eigenen Chefin - infrage. Selbst erfahrene Diplomaten waren verwundert, mit welcher Vehemenz aus dem Lager von Michel und Borrell gegen von der Leyen geschossen wurde - bis hin zu dem Vorwurf, sie gebe Israel de facto frei Hand, Massaker an den Palästinensern zu verüben.

Dass die deutsche Kommissionspräsidentin und der belgische Ratspräsident einander nicht leiden können, ist kein Geheimnis. Die angespannte Beziehung wurde schon im April 2021 offensichtlich, als beide in die Türkei reisten und Michel sich protokollarisch demonstrativ besser behandeln ließ als von der Leyen. Der Vorfall ging als "Sofa-Gate" in die Geschichte der Brüsseler Nickeligkeiten ein. Ein europäischer Regierungsvertreter sagte, er habe "den Eindruck, die bewusst aus dem Umfeld von Michel" gestreute Kritik an von der Leyen sei "eine Fortsetzung" dieses Streits.

Mit Genugtuung wurde in Brüsseler Kreisen am Dienstagabend auf den Tweet eines EU-Korrespondenten der Financial Times hingewiesen. Der Journalist mokierte sich darin darüber, dass die Reise der Kommissionspräsidentin nach Israel ohne Auftrag des Europäischen Rats einen Sturm an "atemloser" Entrüstung ausgelöst habe. Dass sich am Dienstag in China der ungarische Regierungschef Viktor Orbán - Premierminister eines EU-Landes und Mitglied des Gremiums, das Michel leitet - händeschüttelnd mit dem russischen Gewaltherrscher und Kriegsherrn Wladimir Putin fotografieren ließ, werde in Brüssel hingegen mit gleichgültigem Schweigen quittiert, beklagte der Korrespondent.

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