Europäische Finanzregeln:EU-Finanzminister einigen sich auf Reform der Schuldenbremse

Lesezeit: 3 min

Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire (li.) und sein Amtskollege Christian Lindner im Oktober in Hamburg. (Foto: Kay Nietfeld/DPA)

Nach monatelangem Streit haben sich die EU-Staaten auf neue Regeln zum Schuldenabbau verständigt. Zuvor hatten Frankreich und Deutschland den Weg dafür geebnet.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Man muss sich die beiden Minister als Freunde vorstellen. Vielleicht nicht die besten, aber es reicht, damit Bundesfinanzminister Christian Lindner und sein Pariser Amtskollege Bruno Le Maire bei jedem öffentlichen Auftritt ein "mein Freund" vor den Namen des anderen setzen. So beleben sie die angeknackste deutsch-französische Freundschaft zumindest ein wenig, und das ausgerechnet in den zähen Verhandlungen um die Regeln für die Staatsfinanzen in Europa. Zumindest öffentlich ist nichts mehr zu sehen von der eisigen Stimmung zwischen den beiden, von der Mitarbeiter aus Lindners Ministerium noch voriges Jahr sprachen.

So weit sie bis zuletzt noch auseinanderlagen beim Thema Schuldenregeln, so nah beieinander wollten sie wirken am Vorabend der für Mittwoch terminierten entscheidenden Sitzung der EU-Finanzminister. Man sei einer 100-prozentigen Übereinstimmung nah, sagte Le Maire bei einer Pressekonferenz mit Lindner in Paris. Frankreich, Italien und Deutschland seien auf einer Linie. Nach dem anschließenden Abendessen mit seinem deutschen Kollegen verkündete Le Maire, man sei sich jetzt einig.

"Großartige Neuigkeiten für Europa", schreibt Le Maire

Das ebnete den Weg für einen Kompromiss in der Konferenz der Ministerinnen und Minister am Mittwochnachmittag. Nach knapp zwei Stunden verständigten sie sich auf die letzte Version des Reformtextes, wie ihn die spanische Ratspräsidentschaft vorgelegt hatte. Hoch verschuldete EU-Länder sollen demnach mehr Zeit bekommen, ihre Schulden und Defizite zu reduzieren; zugleich schafft die Reform zusätzlichen Spielraum für Investitionen.

"Die neuen Fiskalregeln für die EU-Mitgliedsstaaten sind realistischer und wirksamer zugleich", schrieb Lindner danach bei X. "Sie verbinden klare Zahlen für niedrigere Defizite und sinkende Schuldenquoten mit Anreizen für Investitionen und Strukturreformen." Spaniens Wirtschaftsministerin Nadia Calviño sagte, die Regeln seien nun "glaubwürdiger und realistischer". Sie zeigten, was man aus der Euro-Schuldenkrise gelernt habe.

Die Schuldenregeln waren der einzige Tagesordnungspunkt der außerordentlichen Videokonferenz am Mittwoch. Sie sind auch bekannt als Stabilitäts- und Wachstumspakt und waren hervorgegangen aus den im Maastrichter Vertrag festgelegten Obergrenzen von 60 Prozent Gesamtverschuldung und drei Prozent Haushaltsdefizit.

Diese bleiben auch bestehen. Aber die übrigen Regeln dafür, wie die EU-Staaten mit ihren Schulden umzugehen haben, mussten neu geschrieben werden. So befand das eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, und so sieht es auch die EU-Kommission, die im April ihren Reformvorschlag für die Schuldenregeln vorgelegt hat.

Wegen der Pandemie waren die Fiskalregeln seit 2020 ausgesetzt

Die Reform folgt auf eine Zeit, in der die Kommission die finanzpolitischen Zügel locker ließ. Seit 2020, dem ersten Jahr der Corona-Pandemie, sind die aktuellen Fiskalregeln ausgesetzt. Das gab den EU-Mitgliedstaaten den nötigen Spielraum, um mit Hilfsprogrammen und Investitionen auf die Krise und die anschließenden Kriegsfolgen zu reagieren. Es hatte aber auch Schuldenstände und Haushaltsdefizite zur Folge, die weit über den gesetzlichen Grenzen liegen.

Vom kommenden Jahr an gelten die alten Regeln wieder, und ein knappes Drittel aller EU-Staaten muss mit einem Defizitverfahren rechnen. Im Schnitt sind die 19 Euro-Länder mit mehr als 90 Prozent der Wirtschaftsleistung verschuldet. Frankreich und Italien gehören mit gut 111 und 142 Prozent zur Spitzengruppe. Deutschland liegt zum Jahresende bei knapp 65 Prozent.

Ziel der Reform ist es erstens, den Ländern mehr Zeit zu geben, um ihre Schulden abzubauen, während sie etwa zusätzliche Klimaschutz-Investitionen schultern müssen. Zweitens möchte die Kommission die Regeln künftig strikter durchsetzen. Schon vor der Pandemie galten die Vorgaben nur noch auf dem Papier, und es hatte nie ernsthafte Folgen, wenn ein Land gegen die Maastricht-Kriterien verstieß.

Die Bundesregierung war zunächst besorgt, nachdem die Kommission vorgeschlagen hatte, künftig mit jedem Land individuelle Schuldenabbaupläne zu vereinbaren. Lindner hatte sich deshalb für allgemeingültige Vorgaben zum Schuldenabbau eingesetzt, mit konkreten Zahlen. Das sich solche jetzt im Text wiederfinden, kann er als seinen Erfolg verbuchen.

Die Länder sollen ihre Schuldenquote um bis zu einem Prozentpunkt senken

Demnach sollen Länder mit einer Schuldenquote von über 90 Prozent der Wirtschaftsleistung diese um einen Prozentpunkt pro Jahr senken. Bei einer Verschuldung zwischen 60 und 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts soll es nur ein halber Prozentpunkt pro Jahr sein. Wer in diese beiden Kategorien fällt, soll sein jährliches Defizit unter 1,5 Prozent halten - eine solche "Sicherheitslinie" hatte vor allem Deutschland gefordert. Sie soll Raum schaffen, um in Krisenzeiten reagieren und trotzdem die Drei-Prozent-Regel einhalten zu können.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alles, was Sie heute wissen müssen: Die wichtigsten Nachrichten des Tages, zusammengefasst und eingeordnet von der SZ-Redaktion. Hier kostenlos anmelden.

Länder, die beide Schwellenwerte zugleich überschreiten, sollen ihre Defizite um jährlich mindestens 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts über vier Jahre oder 0,25 Prozent über einen Zeitraum von sieben Jahren reduzieren, bis ein "tragfähiges" Niveau erreicht ist.

Nach der politischen Einigung im Rat müssen die Mitgliedstaaten noch einen Kompromiss mit dem EU-Parlament aushandeln. Während vom kommenden Jahr an wieder die alten Regeln gelten, können die neuen erstmals für die Haushaltspläne 2025 angewendet werden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusExklusivMenschenrechte
:Fördern westliche Unternehmen die Zwangsarbeit in China?

Hunderttausende Uiguren werden in China zur Arbeit gezwungen. Eine Studie findet nun Indizien dafür, dass Firmen wie H&M und Zara weiter Waren aus Zwangsarbeit beziehen könnten.

Von Jan Diesteldorf und Florian Müller

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: