EU-Kommission:Europa lockert starre Schuldenregeln

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Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Die geplante Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts sieht mehr Spielraum für die Länder vor. Bundesfinanzminister Lindner mahnt dagegen einheitliche Vorgaben für alle an.

Von Jan Diesteldorf und Henrike Roßbach, Brüssel, Berlin

Nach intensiven Diskussionen in den vergangenen Monaten hat die EU-Kommission am Mittwoch ihre Vorschläge für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorgelegt. Dieser Pakt gibt den Rahmen vor, in dem sich Europas Regierungen bei ihren Staatsausgaben bewegen dürfen. Ihn einzuhalten, ist Voraussetzung für einen Beitritt zur Euro-Zone. Anstatt starrer Grenzwerte sollen die EU-Staaten nun mehr Spielraum erhalten, um ihre Staatsschulden in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig will die Kommission die Vorgaben strenger durchsetzen, was bislang selten stattfand.

Wenigstens der Diagnose stimmt auch der Bundesfinanzminister zu: Die europäischen Schuldenregeln waren spätestens mit den Krisen der vergangenen Jahre nicht mehr zeitgemäß. Die Corona-Pandemie war in erster Linie eine Gesundheitskrise und der Ukraine-Krieg vor allem eine geopolitische Zeitenwende, aber beides lieferte dafür auch den endgültigen Beweis. Zahlreiche Mitgliedstaaten haben die starren Grenzwerte für ihre Haushaltsdefizite weit überschritten, Deutschland inklusive. Bliebe es bei den noch bis Jahresende ausgesetzten Regeln, müsste die EU-Kommission von 2024 an reihenweise blaue Briefe verschicken und damit Defizitverfahren einleiten.

Während die Schuldenstände EU-weit auf durchschnittlich 84 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen sind, bei jahrelang dürftigem Wirtschaftswachstum, steht die Staatengemeinschaft mit dem grünen Wandel und weiteren Herausforderungen vor einem gewaltigen Investitionsbedarf. Die neuen Regeln sollen beides in Einklang bringen: Haushaltsdisziplin und Milliardenausgaben für die Zukunft. Fazit der Kommission sei es, "dass wir reformierte Fiskalregeln brauchen, um die Schulden wirksam zu reduzieren und gleichzeitig Reformen und Investitionen zu fördern", sagte Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis. Der Vorschlag sei ausgewogen.

EU-Staaten mit zu hohen Haushaltsdefiziten und Schuldenständen sollen künftig individuelle "Abbaupfade" mit der Kommission vereinbaren, um ihre Schulden mittelfristig zu senken. Der Gesetzesvorschlag sieht einen Zeitraum von vier Jahren vor, in dem die Länder ihre Kennzahlen verbessern müssen. Gelingt das nicht, droht ein Defizitverfahren. Mit Reformzusagen und Zukunftsinvestitionen können Regierungen den Pfad auf sieben Jahre verlängern. Die Neuverschuldung pro Jahr soll auch künftig nicht mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung betragen dürfen. Staaten, die dieses Ziel verfehlen, müssten ihr Defizit um mindestens 0,5 Prozentpunkte pro Jahr absenken, bis sie es wieder erreichen.

Neben der Drei-Prozent-Grenze für das Haushaltsdefizit bleibt ein weiterer Kernbestandteil des Stabilitäts- und Wachstumspakts erhalten: Die Staatsverschuldung soll insgesamt nicht höher sein als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Für Länder wie Frankreich, Spanien oder Italien, deren Schuldenstände weit über 100 Prozent liegen, sollen den Kommissionsplänen nach aber nicht mehr allgemeine Vorschriften zum Schuldenabbau gelten. In Zukunft will die Kommission nun nach dem Vorbild des Internationalen Währungsfonds die Schuldentragfähigkeit betroffener Staaten berechnen, mit ihnen Abbaupläne aushandeln und diese vom Rat der Mitgliedstaaten absegnen lassen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte bis zuletzt Druck gemacht und auf ein Mindestmaß an verbindlichen, mit Zahlen versehenen Vorgaben für alle EU-Länder bestanden. Am Mittwoch sagte er, die Bundesregierung werde sich konstruktiv an den Gesprächen beteiligen, habe aber auch "eine eigene Position".

Deutschland könne Vorschlägen, die einer Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts gleichkämen, nicht zustimmen. "Niemand darf sich dem Missverständnis hingeben, dass die Zustimmung der Bundesregierung automatisch gegeben ist", so Lindner. Es seien "deutliche Anpassungen" notwendig, um aus dem Kommissionsvorschlag "verlässliche, transparente und verbindliche Regeln" zu machen. Mit Blick auf die individuellen Abbaupfade sagte er, der "multilaterale Charakter gemeinsamer Regeln" müsse erhalten bleiben. Der Schuldenabbau könne nicht allein ins Ermessen der Kommission gestellt werden.

Wohlwollende Töne kamen dagegen von Lindners Koalitionspartnern. SPD-Fraktionsvize Achim Post sagte der SZ, der Kommissionsvorschlag sei alles in allem "ein vernünftiges Gerüst für die weitere Debatte". Die Kommission greife auch Impulse aus Deutschland auf, die auf klare und vergleichbare Kriterien beim Schuldenabbau zielten. Auch der Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch sprach von einer guten Grundlage. "Wir brauchen einen seriösen Umgang mit Geld in Europa", sagte er. Die Rückzahlung von Schulden müsse transparent und nachvollziehbar erfolgen und sich dabei stärker "an der Situation in den jeweiligen Mitgliedstaaten" orientieren - eine Position, die derjenigen der Kommission näher sein dürfte als der des Bundesfinanzministers. Audretsch mahnte zudem "substanzielle Investitionen" in Klimaschutz und Digitalisierung an. Dafür müsse der nötige Spielraum geschaffen werden.

Viele Experten halten die geplante Abkehr von starren Haushaltsregeln für den richtigen Weg, vor allem nach den Erfahrungen der Eurokrise Anfang der 2010er-Jahre. Damals hatten die EU-Institutionen etwa Portugal mitten im Abschwung zu drastischen Einsparungen gezwungen. "Das kam die Eurozone teuer zu stehen", sagt der Ökonom Sander Tordoir vom Berliner Centre for European Reform. Die Wirtschaftsforscher Jeromin Zettelmeyer und Olivier Blanchard machten in einem jüngst erschienenen Papier deutlich, dass gerade individuell vereinbarte Schuldenabbaupläne besser durchgesetzt werden könnten. Kenngrößen wie der Schuldenstand oder das Defizit allein seien zu wenig aussagekräftig.

Derweil teilte das Bundesfinanzministerium mit, das deutsche Defizit werde dieses Jahr wohl bei 4,25 Prozent liegen - also deutlich zu hoch. Dabei ist allerdings noch nicht berücksichtigt, dass die geplanten 200 Milliarden Euro Hilfen für die Strom- und Gaspreisbremse wegen der gesunkenen Energiepreise vermutlich nicht vollständig abfließen werden.

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