Es gibt ein paar ungeschriebene Regeln in Brüssel, die normalerweise nicht verletzt werden. Die vielleicht wichtigste davon verlangt von der EU-Kommission, sich aus dem innenpolitischen Wettstreit in den Mitgliedstaaten herauszuhalten. Am Sonntagabend griff Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Telefonhörer, um diese Regel zu brechen.
Der Luxemburger rief bei Emmanuel Macron an und gratulierte ihm zu seinem Sieg bei der ersten Runde der französischen Präsidentenwahl. Nicht einmal formell will Juncker vor der Stichwahl in zwei Wochen Unparteilichkeit wahren. Macron repräsentiere die Werte, für die Europa stehe, begründete das sein Sprecher. Es gehe um "die Wahl zwischen der Verteidigung dessen, wofür Europa steht, und einer anderen Option, die danach trachtet, Europa zu zerstören".
Ohne Einvernehmen zwischen Berlin und Paris läuft in der EU wenig
Junckers undiplomatische Offenheit hat einen praktischen und einen tieferen Grund. Praktisch kann er davon ausgehen, keinen Schaden anzurichten: Wer der EU zugetan ist, wird Juncker seine Parteinahme nicht übel nehmen. Wer ihr feindlich gesinnt ist, wählt vermutlich ohnehin Marine Le Pen. Grundlegender ist eine andere Überlegung: Aus Junckers Sicht entscheidet sich bei der Wahl in Frankreich, ob es in Brüssel überhaupt noch einen Job gibt, der zu tun wäre.
Im März hat er ein Weißbuch zur Zukunft der EU vorgelegt, das nach einem Wahlsieg der EU-Feindin Le Pen obsolet wäre. Nun aber kann in Brüssel schon an die Zeit nach September gedacht werden. Ohne Einvernehmen zwischen Berlin und Paris läuft in der Union erfahrungsgemäß wenig. Wenn aber nach der Bundestagswahl Kanzlerin Angela Merkel wiedergewählt oder Martin Schulz zum neuen Kanzler bestimmt worden ist, dann soll das neue Duo mit Macron auf französischer Seite tatsächlich wieder etwas bewegen in der EU. Dies ist, von Brüssel aus betrachtet, das Licht am Ende des Tunnels.
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Einige Vorstellungen Macrons dürften auf Skepsis stoßen
Es könnte allerdings gut sein, dass die Ideen eines möglichen Präsidenten Macron für viele zu grell sind. Besonders in der Berliner Unionsfraktion dürften die Vorstellungen des 39-Jährigen zur Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion auf Skepsis stoßen, wenn nicht gar auf erbitterten Widerstand. Macron will einen eigenen Haushalt für die Euro-Zone schaffen - samt Euro-Finanzminister und Parlament für den Währungsraum. Die Verteilung von Finanzmitteln will der Franzose nicht primär an die Einhaltung von Fiskalregeln, sondern an Besteuerung und Sozialpolitik knüpfen. Wie das genau funktionieren soll, lässt sich aus seinem Wahlprogramm jedoch nicht ablesen.
Für solch weitreichende Reformen wären auf jeden Fall EU-Vertragsänderungen nötig, die auch in Frankreich ein Referendum mit all seinen Unwägbarkeiten nach sich zögen. Allein deshalb seien diese Vorschläge unrealistisch, heißt es in Berlin. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagt zwar immer wieder, dass er für eine Stärkung der Euro-Zone sei, aber anders als Macron will er erst finanzielle Risiken in den EU-Staaten reduzieren, bevor über eine Vergemeinschaftung gesprochen wird. Aus diesem Grund zögert Schäuble etwa die Idee einer gemeinsamen Einlagensicherung weiter hinaus.
Der für Wirtschaft und Währung zuständige EU-Kommissar Pierre Moscovici gibt Macron einen Rat: "Frankreich muss zuerst Glaubwürdigkeit herstellen." Umgemünzt auf die Währungsunion bedeutet dies, dass die neue Regierung in Paris dafür sorgen soll, die Kriterien des Stabilitätspakts einzuhalten. "Frankreich muss die Regeln respektieren", sagt der Franzose Moscovici. Er selbst war mal Finanzminister in Paris und kennt als Sozialist das Problem, dass man gerne mehr ausgeben würde, als der Etat hergibt. Trotzdem steht für Moscovici fest: Erst wenn Frankreich beweist, dass es sich an die fiskalpolitischen Vereinbarungen hält, kann es wieder eine Führungsrolle in der EU übernehmen.
In Brüssel ist man überzeugt: Wie schon in der Vergangenheit sollen die Vorschläge für eine Vertiefung der Währungsunion aus Paris kommen. Merkel und vor allem ihr Finanzminister werden in der EU-Kommission zu sehr als Integrationsbremser wahrgenommen. Die Frage ist deshalb, wie Macron die Bundesregierung davon überzeugen kann, im wahrsten Sinne des Wortes mehr für Europa zu geben?
Natürlich kann er darauf hoffen, dass der nächste Kanzler in Berlin Schulz heißt, dann dürfte er mit vielen Vorschlägen offene Türen einrennen. Wobei selbst der SPD-Kandidat weiß, dass die Mehrheit der Deutschen nichts weniger abkann als das Gefühl, dass sie nur Geld nach "Brüssel" überweisen, während andere weiter Schulden machen.
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Auch Macron wäre kein ganz einfacher Partner für Berlin
Fest steht, dass Macron nicht der einfache Partner würde, den sich in Berlin so mancher ersehnt. Seine Ideen sind herausfordernd. Und viele davon sind noch vage, zumal er eine Konsultationsphase von sechs bis zehn Monaten in allen EU-Staaten vorschlägt. Sie soll eine Roadmap hervorbringen, die in einen Fünf-Jahres-Plan für Europa münden würde. Bei etlichen Vorhaben muss Macron noch erklären, was er genau will. Er muss Kompromisse eingehen, weil er sonst im französischen Parlament scheitern würde, bei dessen Wahl im Juni seine Bewegung En Marche! kaum eine Mehrheit erringen dürfte.
Viele offene Fragen also. Und aus deutscher Sicht gibt es natürlich noch diese: Wie hält es Macron mit dem Handelsüberschuss der Bundesrepublik, den er im Wahlkampf kritisiert hat? Wird er sich mit der EU-Kommission verbünden, die den deutschen Überschuss seit Jahren beklagt, dabei aber nichts erreicht hat, da ihr mächtige Verbündete in den Mitgliedsländern fehlen? Oder wird Macron sich Schäuble anschließen, der eine stärkere zwischenstaatliche Kooperation fordert und die Macht der Kommission beschneiden will?
Die Brüsseler Behörde hofft jedenfalls, dass ihre Vorschläge mit einem Präsidenten Macron mehr Durchschlagskraft haben werden. An diesem Mittwoch will sie im Rahmen ihrer Arbeiten am Weißbuch eine soziale Agenda für die EU vorstellen. Aus Berlin ist dazu wenig Begeisterung zu erwarten.