Erweiterung:Der Streit um Europas Grenzen beginnt

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Sprechen oft mit Präsident Selenskij (Mitte) über einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine: Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel. (Foto: Olivier Matthys/AP)

Zehn Kandidatenländer wollen der Europäischen Union beitreten. Dafür müssen sie zahlreiche Reformen umsetzen. Aber vorher muss sich auch die EU stark verändern.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Sollte Charles Michel auf Zustimmung gehofft haben, auf Lob für seinen visionären Mut, dann wurde er enttäuscht. Die Rede, die der EU-Ratspräsident diese Woche bei einer Konferenz in Slowenien zur Erweiterung der Union gehalten hat, löste in Brüssel eher Kopfschütteln aus. Sogar Zorn: "Die große Mehrheit der EU-Regierungen war absolut entsetzt", sagt ein europäischer Diplomat. Als Ratspräsident sei es Michels Aufgabe, die Meinung der 27 Mitgliedsländer wiederzugeben. "Den Job macht er leider nicht gut."

Michels Vergehen? Er hatte eine Zahl genannt - vier Ziffern, die zusammen ein Datum ergeben: 2030. Und er hatte dieses Datum in einen Satz gepackt, in dem auch das Wort "Erweiterung" vorkam. Sowohl die EU als auch die heutigen Beitrittskandidaten "müssen sich darauf vorbereiten, dass es bis 2030 eine Erweiterung geben wird", sagte Michel.

Die Debatte braucht endlich Form und Richtung

Nun hat Charles Michel trotz seines Titels und Postens als Ratspräsident in der EU nicht viel zu sagen. Zudem endet seine Amtszeit nächstes Jahr - lange vor 2030. Umso mehr ärgerte es viele Regierungsvertreter in Brüssel, dass Michel in so einer schwierigen und komplizierten politischen Frage wie der Aufnahme neuer EU-Mitglieder so weit vorgeprescht ist. "Die Erweiterung richtet sich nach Kriterien, die Länder erfüllen müssen, nicht nach Daten", kritisiert ein Diplomat. "Indem er ein Enddatum nennt, nimmt Michel den Druck von den Kandidatenländern weg und verlagert ihn auf die EU. Wenn man sich anschaut, wie viel die Kandidaten noch leisten müssen, ist das eine gefährliche Entwicklung", warnt er.

Andererseits waren Michels Einlassungen allerdings vielleicht auch notwendig, um der bisher eher wabernden Erweiterungsdebatte etwas mehr Form und Richtung zu geben. Denn die Grundsatzentscheidung, dass die EU irgendwann in absehbarer Zukunft neue Mitglieder aufnehmen soll, ist in der Union nicht mehr wirklich strittig. Der Krieg in der Ukraine habe der EU gezeigt, dass sie die Länder im Osten, die noch keine Mitglieder sind, aus geostrategischen Gründen beitreten lassen müsse, sagt Mujtaba Rahman, Europaexperte des Beratungsunternehmens Eurasia Group. Selbst Frankreich, das eine Erweiterung früher sehr skeptisch gesehen habe, sei umgeschwenkt und nun dafür. "Es geht um die Zukunft Europas", so Rahman.

Völlig ungeklärt ist allerdings, welche Länder wann und unter welchen Umständen aufgenommen werden sollen. Ratspräsident Michel will, dass die 27 Staats- und Regierungschefs darüber bei ihren Gipfeltreffen im Oktober ausführlich reden. Im Dezember soll dann die Entscheidung fallen, ob die EU förmliche Beitrittsgespräche mit der Ukraine beginnt. Die Zeit drängt also, und ein provisorisches Enddatum zu nennen, könnte helfen, die Gespräche etwas verbindlicher zu machen.

Im Moment gibt es acht offizielle EU-Beitrittskandidaten: die Balkanländer Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien und Nordmazedonien sowie die Ukraine und die Republik Moldau. Die Türkei steht wohl nur noch pro forma auf der Liste - die Beitrittsgespräche mit Ankara liegen seit Jahren auf Eis. Georgien und Kosovo gelten zudem als mögliche Kandidaten. Selbst wenn die EU nur einen Teil dieser Länder aufnehmen würde - die fünf Westbalkan-Staaten zum Beispiel plus die Ukraine - würde sich die Mitgliederzahl mithin von 27 auf 33 erhöhen.

Im Mittelpunkt aller Überlegungen steht die riesige Ukraine

Das wiederum zeigt, dass die Erweiterung eben nicht nur davon abhängt, dass die Kandidatenländer sich reformieren, damit sie irgendwann die Kriterien der EU erfüllen, was den Binnenmarkt, die demokratischen Standards, Rechtsstaatlichkeit und etwa die Korruptionsbekämpfung angeht. Das wird, wenn man auf Länder wie Serbien schaut oder auch die Ukraine, schwierig genug. Doch viele Fachleute und Diplomaten - und noch wichtiger: sowohl die deutsche als auch die französische Regierung - sind sich einig, dass sich auch die EU erheblich ändern müsste, wenn sie einen so großen Erweiterungsschritt täte. Und das dürfte noch schwieriger werden.

In Brüssel wird daher nicht nur darüber nachgedacht, ob die Kandidatenländer bereit sind für den Beitritt zur EU. Der zweite Teil der Debatte dreht sich um die Aufnahmefähigkeit der Union selbst - wie viele Neumitglieder sie in welchem Zeitraum absorbieren kann, ohne dass ihr wachsendes Gewicht sie zu Fall bringt. "Die wirklich harten politischen Fragen bei der Erweiterung betreffen die interne Organisation der EU", sagt EU-Experte Rahman. "Da geht es um Geld, wie Macht organisiert ist, wie abgestimmt wird und wie man die Grenzen sichert." Das sind höchst heikle Fragen, und in diesem Zusammenhang ist Michels Forderung nach einem Zeitrahmen bis 2030 wohl tatsächlich wenig hilfreich. "Es gab schon einen Grund, warum Michel nicht eingeladen war, als die Staats- und Regierungschefs im Juni bei einem Frühstück über die Aufnahmefähigkeit geredet haben", sagt ein Diplomat.

Im Mittelpunkt aller Überlegungen und Planungen steht ein Land: die Ukraine. Bei ihr ist die geostrategische Ratio für die Aufnahme in die EU am offensichtlichsten. Allerdings zeigen schon ein paar Zahlen die Dimension der Herausforderung: Die fünf Balkanländer haben zusammen 15 Millionen Einwohner. Die Ukraine hat mehr als 36 Millionen - Platz sechs in der Union. Sie ist mit gut 600 000 Quadratkilometern Fläche nach Russland das größte europäische Land. Zugleich ist der Reformbedarf in der Ukraine in allen Bereichen enorm. Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass Präsident Wolodimir Selenskij ständig von harten neuen Maßnahmen gegen Korruption redet - er will unbedingt vermeiden, dass die EU im Dezember dem Beginn der Beitrittsgespräche deswegen nicht zustimmt.

Alle Parameter, nach denen in der EU heute informeller politischer Einfluss, harte Entscheidungsmacht und Geld verteilt werden, würden durch einen Beitritt der Ukraine über den Haufen geworfen. So würden zum Beispiel sämtliche heutigen EU-Länder, die jetzt unterm Strich mehr Geld aus dem Budget der Union bekommen, als sie einzahlen - die sogenannten Nettoempfänger -, wegen der schieren Größe der Ukraine zu Nettozahlern werden. Das heißt: Anstatt selbst Milliarden Euro aus Brüssel zu bekommen, müssten sie den Wiederaufbau eines kriegszerstörten Landes mitfinanzieren, der Hunderte Milliarden kosten wird.

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Auch die Gemeinsame Agrarpolitik der EU - das Kernstück des Haushalts und Drehscheibe zur Verteilung von Landwirtschaftssubventionen in Höhe von etwa 60 Milliarden Euro pro Jahr - müsste umgekrempelt werden, wenn die Ukraine Mitglied würde. Denn das Land ist einer der größten Agrarproduzenten und -exporteure der Welt. Bauern in Polen oder Frankreich müssten dann auf EU-Zuwendungen verzichten und mit ukrainischen Produkten konkurrieren. Wie viel politischer Sprengstoff darin steckt, zeigt der jüngste Streit um ukrainisches Getreide, für das die EU Transitrouten durch Ost- und Mitteleuropa eingerichtet hat. Weil es aber in den Transitstaaten den heimischen Landwirten die Preise verdarb, schlossen Polen und Ungarn kurzerhand ihre Grenzen. Der Konflikt wurde dann mit Geld vorerst entschärft.

Der Ukraine-Krieg hat auch ein weiteres internes Problem der EU offengelegt, das viele Regierungen gelöst sehen wollen, bevor weitere Staaten beitreten: das Einstimmigkeitsprinzip bei wichtigen Entscheidungen. Gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik kann derzeit jedes EU-Land per Veto Beschlüsse verhindern. Das schafft ein Erpressungspotenzial, das Regierungen wie die in Ungarn weidlich nutzen, um etwa bei den Russland-Sanktionen für sich Ausnahmen herauszuholen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat daher 2022 in einer Grundsatzrede zu Europa eine Erweiterung davon abhängig gemacht, dass auch in der EU-Außenpolitik mehr Entscheidungen mit sogenannter Qualifizierter Mehrheit getroffen werden können.

Diese ist erreicht, wenn bei einem Votum 55 Prozent der EU-Länder, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, mit Ja stimmen. Auch diese Formel, und damit die Möglichkeit einzelner EU-Staaten, Sperrminoritäten zu organisieren, wäre betroffen, wenn das Riesenland Ukraine beiträte - ganz zu schweigen davon, dass viele kleine EU-Länder das Einstimmigkeitsprinzip und ihr Vetorecht aus grundlegenden Erwägungen unbedingt behalten wollen. "Es ist unsere einzige Chance, überhaupt gefragt zu werden", sagt ein Diplomat. Die Befürworter von Mehrheitsentscheidungen warnen dagegen, dass eine EU mit mehr als 30 Mitgliedern gelähmt und handlungsunfähig wäre - schwächer als vor der Erweiterung.

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