Das Politische Buch:Russisches Quintett

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Der Präsident ist überall: Putins Ansprache zur Lage der Nation im Februar wird auch neben einer Moskauer Tankstelle übertragen. (Foto: Olga Maltseva/AFP)

Das "Prinzip Kompromat", Gewalt, Angst, Anarchie: Julian Hans erklärt die russische Gesellschaft am Beispiel von fünf Verbrechen. Die Analyse macht klar: Das Problem ist keineswegs auf die Machthaber im Kreml beschränkt, doch es gibt auch Hoffnung.

Rezension von Nicolas Freund

Bei jeder neuen Meldung von Raketenangriffen auf ukrainische Städte, mit jeder weiteren bizarren Ankündigung aus dem Kreml schwingt in Deutschland außer der Empörung, der Verwunderung und der Angst auch stets die Frage mit, wie das alles überhaupt möglich ist: Wie es sein kann, dass der russische Präsident Wladimir Putin und seine Komplizen ukrainische Städte mit Luftangriffen überziehen, anderen Ländern mit Atomangriffen drohen und sich zu Hause gleichzeitig als fürsorgliche Staatsmänner inszenieren? Wie es sein kann, dass sich nicht mehr Russen gegen Korruption und Ausbeutung zur Wehr setzen; gegen einen Krieg, der auch ihnen schadet? Und warum sie Putin eben wiedergewählt haben.

Viele Bücher haben in den vergangenen Jahren versucht, den russischen Präsidenten, dessen Machtapparat und den russischen Staat zu erklären. Julian Hans, der von 2013 bis 2018 für die Süddeutsche Zeitung als Korrespondent in Moskau gearbeitet hat, wählt für sein Porträt Russlands einen anderen Ansatz: Er möchte das Land aus der Gesellschaft heraus erklären - und zwar am Beispiel von fünf Verbrechen. Allein diese zu erzählen, verrät schon viel über das Russland der Gegenwart.

Es geht um Raubzüge, Vergewaltigung, Folter

Da ist eine Kleinstadt im Süden, die jahrzehntelang von einer brutalen Gang terrorisiert wurde. Polizei und Richter sahen weg oder unterstützten die Raubzüge, Vergewaltigungen und Morde der Bande sogar. Da ist eine Gruppe junger Männer, die in der Region Primorje, ganz im Osten Russlands, einen Partisanenkampf gegen den Staat begann, um sich gegen Polizeigewalt und Willkür zu wehren. Da sind drei Töchter, die ihren Vater ermordeten, der sie jahrelang geschlagen, vergewaltigt und unterdrückt hatte. Da ist ein junger Mann, der herausfinden möchte, warum sein Urgroßvater 1938 als angeblicher japanischer Spion hingerichtet wurde. Und da ist die junge russische Künstlerin und Aktivistin, die in die von Russland besetzte ukrainische Stadt Donezk reiste und dort eine Nacht lang von einem Separatisten gefoltert und misshandelt wurde.

Hans hat jeden einzelnen dieser Fälle akribisch recherchiert und teilweise selbst mit den betroffenen Personen gesprochen. Jedes der Kapitel ist für sich genommen ein so fesselnder wie erschreckender Einblick in die russische Gesellschaft der Gegenwart, und eigentlich müsste man diesen Berichten kaum etwas hinzufügen. Sie sprechen für sich, man versteht sofort, was es bedeutet, wenn solche Dinge in einem Land möglich sind.

Ein Mann des Volkes? Wladimir Putin in einem "Wolga"-Pkw in Krasnodar im Jahr 2005 bei der Eröffnung einer neuen Straße. (Foto: Vladimir Rodinow/AFP)

Hans geht aber noch etwas weiter und versucht, aus diesen Verbrechen Muster abzuleiten: Russland heute, das ist Diktatur und Anarchie zugleich: Marodierende Banden machen mit dem Staatswesen gemeinsame Sache - und fast eine ganze Stadt schaut einfach weg. Wie kann das sein? Hans erkennt darin dieselbe Struktur wie in Putins Regime: "In einem Staat, in dem alle am Gesetz vorbei leben, ist sogenanntes 'Kompromat' so etwas wie eine Versicherung: Wer selbst gegen Gesetze verstößt, sammelt fleißig kompromittierendes Material über die Verstöße seiner Rivalen. Wenn jeder etwas gegen den anderen in der Hand hat, gibt das eine Form von Stabilität, denn jeder weiß: wenn ich auspacke, packt der andere auch aus. Das Prinzip 'Kompromat' schweißt das Land zusammen und ist gleichzeitig Quelle für Misstrauen und Zwietracht."

Tyrannische Männer sehen die Schuld stets bei anderen

Ähnlich ist es bei dem "Tyrannenmord" der Töchter an ihrem Vater: Hier zeigten sich nicht nur die Bruchstellen der Gesellschaft - Männer gegen Frauen, Alt gegen Jung - die Strategie dieser tyrannischen Männer, von denen es in Russland viele gibt, ähnelt in Hans' Beschreibung stark der Haltung der Herrscher im Kreml, die sich kreuzfromm geben, Schuld immer bei anderen suchen, und wenn sie selbst etwas Schlechtes tun, dann behaupten sie, dazu gezwungen worden zu sein. Natürlich fühlen sich manche dann zu Gewalt und Verbrechen ermutigt, wenn die Staatschefs es so vorleben und damit davonkommen.

Julian Hans: Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen. Verlag C.H. Beck, München 2024. 253 Seiten, 18< Euro. E-Book: 18 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Nicht bei allen der geschilderten Kriminalfälle lässt sich das Große allerdings so gut aus dem Kleinen ableiten. So sind etwa die Verbindungen der jugendlichen Partisanen mit dem Aufstand des Söldner-Chefs Jewgenij Prigoschin aufschlussreich in Hinblick auf das anarchistische Prinzip der Gewalt und des Rechts des Stärkeren, das Hans als ein weiteres Problem in der russischen Gesellschaft diagnostiziert. Damit erschöpft sich die Verbindung zwischen ein paar Jugendlichen, die den Aufstand versuchten, und der berüchtigtsten Söldner-Truppe der Welt dann aber auch schon.

Falsch ist indes keine dieser fraktalartigen Hochrechnungen. Sie alle sind für sich genommen wichtige Punkte, die helfen, Russland, das von Deutschland aus gesehen jeden Tag fremder zu werden scheint, etwas besser zu verstehen. Trotz des Fokus auf Verbrechen betreibt Hans hier auch kein Russland-Bashing und reproduziert keine Osteuropa-Klischees, im Gegenteil: Trotz aller Kritik sprechen aus dem Text viel Wärme und Mitgefühl für die russische Kultur und Bevölkerung.

Nicht alle machen mit: Anhänger des damals noch lebenden Regimekritikers Nawalny 2018 in Sankt Petersburg. (Foto: Olga Maltseva/AFP)

Dabei ist dieses Buch gar nicht anders als im Kontext des Kriegs in der Ukraine zu lesen. Hans sieht hier grundsätzliche Unterschiede zwischen der ukrainischen und der russischen Gesellschaft, was auch einer der Gründe dafür ist, dass die Machthaber im Kreml die Ukraine als Gefahr für sich betrachten. Denn anders als viele Russen hätten die Ukrainer die Erfahrung gemacht, dass sie als Bürger etwas bewirken können; dass sie etwas zählen und etwas erreichen können. Anders als in Russland habe sich in der Ukraine eine starke Zivilgesellschaft entwickeln können.

Ein anderes Russland ist möglich

Den Keim dafür erkennt Hans aber auch in Russland, wie er aus teils persönlichen Erfahrungen noch von seiner ersten Reise nach Russland vor mehr als 30 Jahren als Zivildienstleistender berichtet. So habe sich die russische Gesellschaft in vielen Bereichen bereits weiterentwickelt. "Der Krieg gegen die Ukraine, die Gewalt und die Repressionen gegen Andersdenkende und Minderheiten, sind Reaktionen auf einen Wandel, der bereits im Gange ist." Ein anderes Russland ist möglich, und in diesem Buch kann man es bereits erahnen - trotz aller Schrecken der Gegenwart.

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