Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:Ein kleiner Nebensatz

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Eine sechsköpfige Familie auf dem heimischen Sofa: Familien mit mehreren Kindern sollen künftig bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung bessergestellt werden. (Foto: Ute Grabowsky / photothek.net/imago/photothek)

Kinderreiche Familien sollen künftig bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung bessergestellt werden. Aber bei der Renten- und Krankenversicherung sieht das Verfassungsgericht keine Notwendigkeit für einen Familienbonus.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Vor gut 20 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht eine große Frage aufgeworfen: Müssen Eltern bei den Beiträgen zur Renten- und Krankenversicherung bessergestellt werden als Kinderlose - weil sie durch ihre Kinder zum Erhalt des Systems beitragen? Das war gleichsam nur ein Nebensatz in einem Urteil, mit dem Karlsruhe damals für Menschen mit Kindern niedrigere Beiträge in der Pflegeversicherung durchgesetzt hatte. Nun hat das Bundesverfassungsgericht selbst die Antwort auf die alte Frage gegeben: Zwar ist eine Entlastung größerer Familien in der Pflegeversicherung nötig. Doch dort, wo es um wirklich viel Geld geht, nämlich bei den Beiträgen zur Renten- und Krankenversicherung, ist kein zusätzlicher Familienbonus notwendig.

Das Gericht beanstandet, dass in der Pflegeversicherung lediglich zwischen Eltern und Kinderlosen unterschieden wird, aber bei den Beiträgen keinerlei Unterscheidung nach der Anzahl der Kinder getroffen wird. Wer ein Kind hat oder drei oder fünf, zahlt derzeit unterschiedslos 3,05 Prozent vom Bruttoeinkommen in die Pflegeversicherung, wohingegen Kinderlose 3,4 Prozent zahlen. Nun geht das Gericht einen Schritt weiter: Künftig muss auch nach der Anzahl der Kinder unterschieden werden. Denn mit der Anzahl der Kinder steige erstens der wirtschaftliche Aufwand der Familien, zweitens führe die Kindererziehung zu verringerten Erwerbschancen.

Dies zeige sich auch darin, dass die beruflichen Chancen von Müttern mit mehreren Kindern wie auch deren Einkommen "substantiell" hinter denjenigen mit weniger Kindern zurückblieben. Dass beide Gruppen dieselben Beiträge in die Pflegeversicherung einzahlen müssten, verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Der Gesetzgeber muss bis zum 31. Juli 2023 eine Neuregelung treffen.

Bei der Krankenversicherung soll alles so bleiben - Kinder seien schließlich mitversichert

Allerdings wollte das Gericht diese Logik nicht auf die Rentenversicherung übertragen. Und zwar deshalb, weil die Erziehung von Kindern sich zwar nicht bei den Beiträgen, wohl aber auf die Höhe der Rente auswirkt. Kindererziehungszeiten werden in den ersten drei Lebensjahren anerkannt, pro Kind steigt das Ruhegeld damit um gut 90 Euro monatlich. Darin liege nicht nur eine Honorierung des Wertes der Kindererziehung. Zugleich bedeute dies eine "faktische Entlastung auf der Beitragsseite" - und zwar deshalb, weil die Betroffenen für dieselbe Rentenhöhe sonst höhere Beiträge zahlen müssen. Das bedeute bereits in Zeiten der Berufstätigkeit einen "spürbaren wirtschaftlichen Vorteil".

Auch bei der Krankenversicherung hält das Gericht keinen zusätzlichen Familienausgleich für erforderlich. Vor allem deshalb, weil Kinder schon jetzt beitragsfrei mitversichert sind. Dies sei eine faktische Beitragsentlastung, so das Gericht.

Im Pflegeversicherungsurteil von 2001 hatte das Bundesverfassungsgericht vor allem deshalb eine Entlastung von Familien gefordert, weil Kinder eben auch ein Beitrag zum Erhalt der Sozialversicherungssysteme seien: "Wird ein solches allgemeines, regelmäßig erst in höherem Alter auftretendes Lebensrisiko durch ein Umlageverfahren finanziert, so hat die Erziehungsleistung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems", argumentierte es. Wichtig war dem Gericht damals, dass die Entlastung der Eltern "während der Erwerbsphase" stattfinde - also durch niedrigere Beiträge. Zudem mahnte das Gericht, die Bedeutung des Urteils müsse "auch für andere Zweige der Sozialversicherung" geprüft werden.

Doch bei der Rentenversicherung hat sich auf der Beitragsseite danach nichts getan. Das Bundessozialgericht hatte seither zwar immer wieder über solche Klagen zu entscheiden, weigerte sich aber beharrlich, die Anregung aus Karlsruhe umzusetzen, an die es sich ausdrücklich nicht gebunden fühlte, weil Karlsruhe eben nur zur Pflege, nicht zur Rente geurteilt hatte.

Das höchste Sozialgericht akzeptierte im Jahr 2017 zwar, dass Versicherte mit Kindern "in ganz besonderem Maße zur Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung und dessen Nachhaltigkeit beitragen". Wie der Gesetzgeber aber diesen Beitrag honoriere, könne er im Rahmen seines politischen "Gestaltungsspielraums" selbst entscheiden. Dass die Kindererziehung bei der Rentenhöhe berücksichtigt werde und nicht bei den Beiträgen, stehe im Einklang mit der Verfassung. "Dass Versicherte mit Kindern durch familienfördernde Leistungen durch den Gesetzgeber auf Euro und Cent so gestellt werden müssten, als hätten sie keine Kinder", sei dem Grundgesetz nicht zu entnehmen.

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