Bundestag:Generaldebatte lässt Abgeordnete leidenschaftlich streiten

Lesezeit: 6 Min.

  • Die jüngsten Auseinandersetzungen mit den rechtsextremen Protesten der vergangenen Wochen haben die Generaldebatte des Bundestags bestimmt.
  • SPD-Chef Schulz warf dem AfD-Fraktionschef Gauland die Reduzierung komplexer Sachverhalte auf ein einziges Thema und den Bezug auf eine Minderheit vor.
  • Die Kanzlerin arbeitete nüchtern ihre Sicht auf die Geschehnisse in Chemnitz ab.

Von Nico Fried, Berlin

Es ist 11.35 Uhr, als die Kanzlerin aufsteht und dem Ausgang des Plenarsaals entgegenstrebt. Ihr folgt mit kurzer Verzögerung der Innenminister. Angela Merkel und Horst Seehofer ziehen sich in das Büro der Kanzlerin im Bundestag zurück, jenen Raum, in den sich Gerhard Schröder gerne aus der Küche des Kanzleramtes Kalbsleber mit Kartoffelstampf schmuggeln ließ, weil er nicht gerne im Parlamentsrestaurant aß. Weil es aber fürs Mittagessen noch zu früh ist, stellen sich zwei wichtige Fragen: Was lässt die Kanzlerin ihrem Gast reichen? Und entscheiden die beiden jetzt über die Zukunft des Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen? Es wird 17 Minuten dauern, bis man zu einer von beiden Fragen deutlich mehr erfährt.

Merkel und Seehofer haben die Haushaltsdebatte, die traditionell zur Generalaussprache über alle politischen Themen genutzt wird, nach der Rede von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel verlassen. Damit hat die Kanzlerin in der Diskussion über den Etat ihres Amtes der Form Genüge getan, weil sie nicht nur selbst gesprochen, sondern sich auch alle Fraktionsvorsitzenden angehört oder deren Reden zumindest beigewohnt hat. Hinter der Regierung und den Abgeordneten des Bundestages liegen zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb etwas zerfranste, gelegentlich aber durchaus hitzige, punktuell sogar erschreckende Stunden, die freilich auch ihre Längen hatten. Zu Letzterem trug Merkel mit ihrer Rede nicht unwesentlich bei.

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Mit den jüngsten Geschehnissen in Chemnitz hatte die Debatte über weite Strecken eine Art roten Faden, zwischendurch bekam der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner auch mal einen erstaunlich roten Kopf. Die meiste persönliche Kritik wurde von den Rednern einmal mehr bei Horst Seehofer abgeladen, der das nahezu regungslos über sich ergehen ließ; das parlamentarische Instrument der Kurzintervention verschaffte einem prominenten sozialdemokratischen Hinterbänkler einen Auftritt, über den man wohl noch länger reden wird und in dem sich AfD-Chef Alexander Gauland unter seinem Niveau behandelt fühlte.

Seehofer und Nahles gingen schließlich freundlich auseinander

Chemnitz also, die Tötung eines Mannes durch zwei Asylbewerber, die Proteste, die Entgleisungen und nicht zuletzt die dazugehörigen Bewertungen des Verfassungsschutzpräsidenten. SPD-Chefin Andrea Nahles sprach dazu schon vor Beginn der Sitzung, aber gut sichtbar neben dem Rednerpult, ein offenes Wort mit Seehofer. Wie ernst der Dialog gewesen sein muss, war daran zu erkennen, dass selbst ein für gewöhnlich unerschrockenes Gemüt wie Arbeitsminister Hubertus Heil nicht wagte, das Zwiegespräch für den üblichen morgendlichen Händedruck zu stören. Seehofer und Nahles gingen schließlich freundlich auseinander. Aber so wenig Zukunft wie aus Sicht der SPD dürfte Maaßen in keiner anderen Regierungspartei haben.

Die eigentliche Sitzung eröffnete als erster Redner Alexander Gauland von der AfD. Er stellte einen Konsens darüber fest, dass der innere Friede im Land gefährdet sei, aber einen Dissens darüber, wer diesen Frieden gefährde. Indem er eine ganze Liste von Gewalttaten unter mutmaßlicher Beteiligung von Migranten aufzählte, machte Gauland deutlich, wem er an erster Stelle die Verantwortung zu geben gedachte. Die Menschen hätten Angst vor Gewalt und fühlten sich im Vergleich zu Flüchtlingen ungerecht behandelt. Die Kanzlerin aber habe für spontane Demonstrationen normaler Bürger in Chemnitz das Wort "Zusammenrottung" benutzt. In der DDR sei das ein Straftatbestand gewesen. "Wenn Bürger von ihrem Grundrecht Gebrauch machen, und die Regierungschefin das im Duktus eines totalitären Staates brandmarkt, sollten die Alarmglocken bei uns allen läuten", so Gauland mit einer bei Merkel-Gegnern traditionell besonders beliebten Anspielung auf ihre Herkunft und unter tosendem Applaus seiner Fraktion.

Weil Gauland eine Zwischenfrage von Martin Schulz ablehnte, erhielt der frühere SPD-Chef nach der Rede Gelegenheit zu einer sogenannten Kurzintervention. Schulz warf dem AfD-Fraktionschef die Reduzierung komplexer Sachverhalte auf ein einziges Thema und den Bezug auf eine Minderheit vor. "Das ist ein tradiertes Mittel des Faschismus", so Schulz. Er verglich die Rhetorik Gaulands gegen Flüchtlinge mit der Rhetorik der Nationalsozialisten gegen die Juden. Es sei an der Zeit, dass sich die Demokraten gegen diese "rhetorische Aufrüstung", die zur Enthemmung und schließlich Gewalttaten auf der Straße führe, zur Wehr setzten. Es war, von Schulz vielleicht nicht unbeabsichtigt, ein Auftritt, der an seine Auseinandersetzung mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi im Europa-parlament erinnerte, der ihn als Capo bezeichnet hatte.

Nun geschah Bemerkenswertes: Fast alle Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken erhoben sich, um Schulz Applaus zu spenden. Dieser dürfte dem geschundenen Ex-Kanzlerkandidaten gutgetan haben - zumal von den eigenen Leuten, die ihn vor nicht allzu langer Zeit noch fallen ließen wie eine heiße Kartoffel. Das wäre ein guter Zeitpunkt für ihn gewesen, sich wieder zu setzen. Doch Schulz machte weiter und hielt Gauland nun vor, den Hitler-gruß nur als unappetitliche Geste bezeichnet zu haben. Es sei aber eine Straftat. Genau das hatte Gauland allerdings selbst gesagt. Und mit der Schlussbemerkung, der AfD-Mann gehöre auf einen aus Vogelschiss bestehenden Misthaufen der deutschen Geschichte, machte es Schulz Gauland dann noch etwas leichter, das Niveau der Kurzintervention zu kritisieren.

Schulz' einstige Gegenkandidatin reagierte auf die Angriffe Gaulands wie immer: Sie ignorierte sie. Die Kanzlerin nimmt aus Prinzip in Kauf, dass ihr Leidenschaftslosigkeit gegenüber der AfD vorgeworfen wird. Merkel glaubt, mit jeder Antwort von ihr werde die AfD nur aufgewertet. Mit Schulz und Merkel prallten mithin an diesem Tag zwei politische Schulen für den Umgang mit der AfD aufeinander. Allerdings auch zwei Politiker mit sehr unterschiedlicher Verantwortung.

Ein heikler Satz der Kanzlerin

Die Kanzlerin arbeitete nüchtern ihre Sicht auf Chemnitz ab. Die Tötung des Mannes habe die Menschen aufgewühlt. Doch so sehr sie die Empörung über eine schwere Straftat teile, dürfe diese nicht als Entschuldigung für menschenverachtende Demonstrationen gelten. Regeln des Rechtsstaats könnten nicht durch Emotionen ersetzt werden. "Begriffliche Auseinandersetzungen, ob es jetzt Hetze oder Hetzjagd ist, helfen uns wirklich nicht weiter", so Merkel. Ein heikler Satz - denn diese Frage nicht so genau zu nehmen, hülfe vor allem Merkel selbst. Die Kanzlerin hatte ja von Hetzjagd gesprochen, den Begriff dann aber nicht mehr bekräftigt.

Den Rest ihres Aufenthalts am Pult absolvierte Merkel mehr, als dass sie eine Rede hielt. Eigentlich fiel nur noch eine neue rhetorische Figur auf: Ihr beliebtes Ausbreiten von politischen Problemen ("Es geht einerseits um dies, andererseits um jenes") erweiterte Merkel an diesem Tag bisweilen um den Satz: "Da haben wir gute Nachrichten." Gemeint waren damit zum Beispiel die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung und das Paket gegen die Wohnungsnot.

FDP-Chef Christian Lindner begann mit dem eigentlichen Thema der Debatte: dem Haushalt. Die wirtschaftliche Situation sei außerordentlich günstig. Es gebe aber "keine Pflicht, alles Geld auszugeben", so Lindner, womit er wohl meinte, man könne den Bürgern auch mal was zurückgeben. Deshalb sei es ein "Haushalt der verpassten Chance". Gerne wäre er noch viel tiefer in die Details eingestiegen, aber es werde ja schon wieder nur über Migration gesprochen, schimpfte der FDP-Chef. Die Empörung der AfD sei genauso ritualisiert wie die Empörung über die AfD. Wie Lindner die schwarze Mappe mit seiner vorbereiteten Rede plötzlich zuwarf, weil er nun auch über Migration reden musste, wirkte seine Empörung zumindest reichlich inszeniert.

Lindner schoss aufrichtige Wut ins Gesicht

Das änderte sich jedoch, als der Liberale gerade einen Appell zur Gemeinsamkeit der Demokraten bei der Lösung des Themas Zuwanderung loswerden wollte. Da rief ihm Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter etwas zu, was offenkundig auf das Nein der FDP zur Jamaika-Koalition anspielte - und Lindner schoss aufrichtige Wut ins Gesicht. "Empörend" sei der spalterische Zwischenruf, so Lindner, der mit der Beschimpfung Hofreiters gar nicht mehr aufhören wollte.

Andrea Nahles bemühte sich über weite Passagen ihrer Rede darum, zu erklären, warum die SPD eigentlich jedes Mal, wenn sie in der Koalition etwas mit der Union beschließt, quasi am selben Tag gleich noch viel mehr fordert - zum Beispiel bei der Rentensicherheit bis 2040 oder auch in der Wohnungspolitik. Nahles rechtfertigte dieses Vorgehen mit den Erwartungen der Menschen, ohne jene kleine Auswahl, die ihr zuhörte, zu begeistern. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt veranlasste das zu scharfer Kritik: Erst knicke die SPD für die Kompromisse in der Koalition ein und mache dann auch noch Wahlkampf gegen sich selbst.

Göring-Eckardt wie auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch versuchten - neben allfälliger Kritik an Verfassungsschutz-chef Maaßen und seinem Vorgesetzten Horst Seehofer -, noch ihnen wichtige Themen herauszustellen. Die grüne Fraktionschefin schimpfte, dass kein Redner trotz des heißen Sommers über die Klimapolitik gesprochen habe. Bartsch beklagte die Kinderarmut in Deutschland, die sich seit dem Amtsantritt der Kanzlerin Merkel 2005 verdoppelt habe. Da aber hörte die Kanzlerin gerade mal wieder nicht zu, weil sie auf der Regierungsbank mit Seehofer offenkundig die spätere Verabredung hinter verschlossenen Türen festzurrte.

Dieses Treffen endet später um 11.52 Uhr. Merkel verlässt ihr Büro zuerst und geht zurück ins Plenum. Seehofer geht die Treppe hinunter Richtung Ausgang. Hat er mit Merkel über Maaßen gesprochen? Keine Bestätigung, kein Dementi, keine lesbare Mimik. Seehofer sagt nur einen Satz, mit dem er wenigstens die zweite wichtige Frage beantwortet: "Die Kanzlerin und ich haben einen Kaffee getrunken."

© SZ vom 13.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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