Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:Das Debakel von Berlin

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Am 26. September 2021 standen noch nach 18 Uhr Wahlberechtigte in der Schlange. Da lagen bereits die ersten Prognosen vor. (Foto: Georg Hilgemann/dpa)

Die Pannen bei der Bundestagswahl haben Folgen: In 455 Wahlbezirken der Hauptstadt muss erneut abgestimmt werden. Wie geht es jetzt weiter? Und welche Parteien könnten profitieren? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Jan Heidtmann und Robert Roßmann, Berlin

Am 26. September 2021 haben die Deutschen den aktuellen Bundestag gewählt - in Berlin war es ein Tag voller Pannen. In einigen Wahllokalen gingen die Stimmzettel aus, in anderen wurden falsche verteilt. Mancherorts musste die Abstimmung zwei Stunden lang unterbrochen werden. Es gab Wahllokale, in denen man seine Stimme auch deutlich nach 18 Uhr noch abgeben konnte, da lagen schon die ersten Prognosen der Demoskopen vor. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Wahl in der Hauptstadt wegen der vielen Pannen teilweise wiederholt werden muss. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es derlei noch nie gegeben.

Warum musste sich das Gericht überhaupt mit dem Thema befassen?

Der Bundestag hatte sich - wie vorgeschrieben - selbst um die Aufarbeitung der Wahlpannen gekümmert. Im November 2022 beschloss das Parlament mit den Stimmen der Ampelfraktionen, dass die Wahl in 431 der 2256 Wahlbezirke wiederholt werden muss. Der Unionsfraktion ging das aber nicht weit genug, sie zog deshalb vor das Bundesverfassungsgericht. Dabei verwies die Unionsfraktion darauf, dass auch der damalige Bundeswahlleiter eine viel weitergehende Wiederholung der Abstimmung in Berlin gefordert habe. Die Karlsruher Richter haben jetzt über die Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion entschieden.

(Foto: SZ-Grafik: Mainka; Quelle: Bundeswahlleiter)

Wer hat in Karlsruhe jetzt gewonnen? Die Ampel oder die Union?

Verloren hat in jedem Fall der rot-rot-grüne Berliner Senat, der bei der Bundestagswahl 2021 im Amt war und für die schweren Mängel bei der Abstimmung politisch verantwortlich ist. Wer jetzt in Karlsruhe gewonnen hat, ist schwerer zu beantworten. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts heißt es zwar, dass der von den Ampelfraktionen getroffene Bundestagsbeschluss "materiell im Ergebnis überwiegend rechtmäßig" sei. Die Richterinnen und Richter monieren aber, dass der Beschluss "auf einer unzureichenden Aufklärung des Wahlgeschehens" beruhe, da "er die Niederschriften der einzelnen Wahlbezirke weder selbst ausgewertet noch deren Auswertung in sonstiger Weise veranlasst hat". Die Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion sei "teilweise begründet". Außerdem hat das Verfassungsgericht die Zahl der Wahlbezirke erhöht, in denen die Wahl wiederholt werden muss - allerdings nur minimal von 431 auf 455.

Doris König, Vizepräsidentin des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, verliest das Urteil. (Foto: UWE ANSPACH/AFP)

Welche Auswirkungen kann die Wiederholungswahl haben?

Im Bundestag wird sich fast nichts ändern. Das liegt daran, dass die Hauptstadt nur knapp vier Prozent der Abgeordneten stellt und nur in circa jedem fünften Berliner Wahlbezirk die Abstimmung wiederholt wird. Weil die Wahl nicht komplett wiederholt wird, muss die Linke auch nicht mehr befürchten, dass sie ihre Berliner Direktmandate verliert. Hätte sie eines dieser beiden Mandate eingebüßt, hätte sie nicht mehr von der sogenannten Grundmandatsklausel profitiert und deshalb alle bundesweit über Listen gewonnenen Mandate verloren. Das Land Berlin könnte allerdings Sitze an andere Bundesländer verlieren, da die Wahlbeteiligung bei der Wiederholungswahl erheblich niedriger sein dürfte als bei der Wahl 2021. Dadurch würde der Anteil Berlins an den bundesweit abgegebenen Stimmen sinken.

Wie reagieren die Parteien auf das Ergebnis?

"Wir freuen uns, dass das Bundesverfassungsgericht unsere Entscheidung weitgehend bestätigt hat und so das Vertrauen der Berliner Wählerinnen und Wähler in die funktionierenden Abläufe unserer Demokratie wiederhergestellt werden kann", sagte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner. Die CDU sieht sich dagegen in ihrer Entscheidung bestätigt, nach Karlsruhe zu ziehen. Die Wiederholungswahl sei jetzt eine Chance für die Berlinerinnen und Berliner, der Ampelkoalition im Bund "ein Stopp-Schild" zu zeigen, sagte Generalsekretär Carsten Linnemann. Die Linke reagierte zufrieden. "Mit dem Urteil ist klar, dass wir im Bundestag bleiben und unsere Aufgabe als soziale Opposition weiter wahrnehmen werden", sagte der frühere Fraktionschef Dietmar Bartsch. Die Grünen reagierten nachdenklich. "Es ist gut, dass wir in Deutschland sorgfältig überprüfen, ob Wahlen korrekt abgelaufen sind, aber es muss schneller gehen", sagte deren parlamentarischer Geschäftsführer Till Steffen. Die Wahlwiederholung knapp zweieinhalb Jahre nach der Bundestagswahl lasse sich nur "schwer vermitteln".

Wie wird die Wiederholungswahl vorbereitet?

Ein Gutes hat das Debakel von 2021 zumindest: Berlin hat inzwischen Erfahrung darin, solche Wahlen vorzubereiten. Nach dem Urteil des Berliner Verfassungsgerichts musste im Februar bereits das Abgeordnetenhaus erneut gewählt werden. Wenn man so will, war diese Abstimmung das Meisterstück des neuen Landeswahlleiters Stephan Bröchler. Er und seit Team haben sich auch auf alle denkbaren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorbereitet. Geeignete Orte für die Wahllokale wurden bereits ausgesucht, Druckereien für Stimmzettel angefragt und frühere Wahlhelfer angeschrieben. Das größte Problem war bisher die Ungewissheit, in welchem Umfang neu gewählt werden muss. Denn allein in einem Bezirk wie Steglitz-Zehlendorf schwankt die Zahl der benötigten Wahlhelfer erheblich. Bei einer Teilwiederholung, wie sie jetzt beschlossen wurde, rechnet das Bezirksamt mit 270. Bei einer vollständigen Wiederholung wären es 3200 gewesen. Dass jetzt nur in gut 20 Prozent der Berliner Wahlbezirke neu abgestimmt werden muss, macht die Vorbereitungen erheblich einfacher. "Wir können nun konkret die Planungen in Entscheidungen überführen", sagt Landeswahlleiter Bröchler.

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Wann wird gewählt?

Die Regularien sehen vor, dass spätestens zwei Monate nach der Karlsruher Entscheidung gewählt werden muss. Der letzte Sonntag in dieser Frist ist der 11. Februar; der Landeswahlleiter hat dieses Datum nun auch als Wahltag festgelegt. Dies sei eine Herausforderung, sagte Bröchler, "denn es bleiben uns von den 60 nur 55 Tage Zeit". Als das Berliner Verfassungsgericht im vergangenen Jahr die Wahl zum Abgeordnetenhaus für ungültig erklärt hatte, blieben wegen der auf Landesebene anderslautenden Vorschriften noch 90 Tage für die Organisation.

Wer genau ist eigentlich schuld an dem Debakel?

Als der neue Landeswahlleiter Stephan Bröchler im vergangenen Sommer vor dem Bundesverfassungsgericht dazu Stellung nahm, nannte er vor allem zwei Gründe: die Berliner Eigenart, wegen des hohen Gewichts nicht gleich alle nötigen Wahlscheine in die Wahlbüros zu bringen. Viele Nachlieferungen blieben dann wegen des Berlin-Marathons stecken, der zeitgleich stattfand. Außerdem machte Bröchler ein falsch verstandenes Corona-Hygienekonzept für die langen Schlangen verantwortlich. Die Bezirke hatten offenbar irrtümlicherweise verstanden, dass mehr als zwei Kabinen pro Wahllokal nicht zulässig seien. Hinzu kam, dass es keine zentrale Aufsicht über die Wahlvorbereitungen gab und sich auch niemand bereit erklärte, die Verantwortung zu übernehmen. Das soll sich nun auch strukturell ändern: Der Senat wird sowohl auf Landesebene als auch in den zwölf Berliner Bezirken feste Wahlämter einrichten.

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