Atomkraftwerke:Von wegen Schluss der Debatte

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Die FDP will, dass Atomkraftwerke eine Option bleiben. (Foto: imago stock&people/imago/blickwinkel)

"Ich bin froh, dass wir die Diskussion über die Atomkraft beendet haben", sagt die grüne Umweltministerin Steffi Lemke. Da hat die FDP schon wieder damit angefangen.

Von Michael Bauchmüller und Paul-Anton Krüger, Berlin, Greifswald

Steffi Lemke hat einen weißen Overall angezogen und einen blauen Schutzhelm, die Bundesumweltministerin von den Grünen begutachtet das nukleare Erbe der DDR. Über ihr baumeln Seile des "VEB Förderanlagen und Kranbau Köthen", ein paar Meter weiter ist eine automatische Bandsäge gerade dabei, ein stählernes Pumpenteil zu zersägen. Sechs Wochen wird es brauchen, bis es zerlegt ist. Bis hier, im einstigen Atomkraftwerk Greifswald, die radioaktive Hinterlassenschaft entsorgt ist, werden wohl noch 20 Jahre ins Land gehen. "Ich bin froh, dass wir die Diskussion über die Atomkraft beendet haben", sagt Lemke.

Von wegen.

Während Lemke sich in Greifswald ein Bild vom Rückbau macht, legt die Führung der FDP-Bundestagsfraktion einen neuen alten Vorschlag auf den Tisch der Klausurtagung ihrer Abgeordneten in der Gläsernen Manufaktur zu Dresden: "Wir brauchen grundlastfähige Kraftwerke und wollen deshalb den Rückbau der noch einsatzfähigen Kernkraftwerke stoppen", heißt es in der Beschlussvorlage für die 92 Volksvertreter, die an diesem Freitag das Papier beschließen wollen. "Nur so bleiben wir in jeder Situation handlungsfähig." Die Liberalen sind eine diskussionsfreudige Partei, aber dass die Abgeordneten gerade diesen Passus streichen, ist unwahrscheinlich.

Fraktionschef Christian Dürr sagt, das Kabinett habe bei seiner Zusammenkunft in Meseberg die richtigen Schwerpunkte gesetzt: "Spürbare Entlastung, weniger Bürokratie - das sind die richtigen Impulse für unsere Wirtschaft." Diesen Kurs wolle die Fraktion auf ihrer Klausur fortführen. Unter anderem werde man also darüber sprechen, "wie wir die Energiepreise wieder runterbringen" - doch dieses Thema ist in der Ampel höchst kontrovers.

Dürr macht da eine Rechnung auf, mit der die Liberalen schon vergangenen Herbst für eine Laufzeitverlängerung der drei damals noch in Betrieb befindlichen Meiler Isar 2 bei Landshut, Neckarwestheim 2 und Emsland in Lingen geworben hatten. Mit deren Abschaltung verzichte Deutschland auf die Produktion von 30 Terawattstunden Strom pro Jahr. Das mache sich im Stromnetz bemerkbar. Er hätte sich gewünscht, sagt Dürr, dass "die Kernkraftwerke in dieser angespannten Situation am Netz bleiben können".

Es lässt sich ohne große Mühe der Vorlage entnehmen, wen die Liberalen in der Debatte um die hohen Strompreise in der Verantwortung sehen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen müsse "möglichst zeitnah die Kraftwerkstrategie 2026 des Bundes vorlegen, um Planungssicherheit für die Energieunternehmen und energieintensiven Branchen zu schaffen", heißt es da. Auch die Bewältigung von Worst-Case-Szenarien müsse dabei berücksichtigt werden.

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Das ist ein Argument, das im vergangenen Jahr Olaf Scholz wohl mit dazu gebracht hatte, das einzige Mal seit seinem Amtsantritt unter Berufung auf seine Richtlinienkompetenz als Kanzler eine Entscheidung in der Ampelkoalition ohne ein Einvernehmen der Partner durchzusetzen. Die Bundesregierung hatte nach diesem Machtwort den schon beschlossenen endgültigen Atomausstieg gegen heftigen Widerstand der Grünen verschoben und die drei Meiler bis Mitte April 2023 weiterlaufen lassen.

Sie wollte damit befürchteten Energieengpässen im Winter vorbeugen. Diese waren dadurch ausgelöst worden, dass Russland seine Gaslieferungen nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine gedrosselt und letztlich eingestellt hatte.

Die FDP hatte gehofft, mit ihrem Einsatz für die Laufzeitverlängerung auch Stimmen zu gewinnen. Einen Monat vor der Landtagswahl in Niedersachsen besuchte Dürr mit dem Spitzenkandidaten Stefan Birkner das Kraftwerk Emsland. Umfragen zeigten damals, dass viele Bürgerinnen und Bürger dem Vorschlag der FDP etwas abgewinnen konnten - was sich aber nicht bei den Wahlen niederschlug. Die FDP flog mit 4,7 Prozent aus dem Landtag.

Heute kommt als Argument der hohe Strompreis hinzu, der vor allem energieintensiven Industrien zu schaffen macht, die im internationalen Wettbewerb stehen. Die SPD-Bundestagsfraktion und die Grünen fordern einen vom Staat subventionierten Industriestrompreis, der bestimmten Branchen zeitlich befristet zugutekommen soll. Bundeskanzler Scholz hat das nicht ausgeschlossen, sich aber bislang zurückhaltend gezeigt. Dauerhafte Subventionen mit der Gießkanne könne man sich nicht leisten, argumentiert er, ähnlich wie FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner.

Statt eines Industriestrompreises wollte die FDP-Fraktion über eine Senkung der Stromsteuer auf das von der EU vorgeschriebene zulässige Mindestmaß beraten. "Stromsteuersenkung für alle statt Industriestrompreis für wenige", heißt es in der Vorlage. Der Netto-Strompreis würde allein dadurch um zwei Cent pro Kilowattstunde sinken. "Ein Industriestrompreis ist demgegenüber der falsche Weg, weil sich eine Finanzierung durch Schulden verbietet und es unfair wäre, wenn Handwerk und Mittelstand den subventionierten Strompreis für die Großindustrie bezahlen würden", heißt es weiter.

Zur Gegenfinanzierung sei die FDP bereit, gemeinsam mit den Koalitionspartnern den Bundeshaushalt zu durchleuchten und Einsparpotenziale zu identifizieren. Für fragwürdig halten die Liberalen etwa Subventionen für Einzelansiedlungen von Industrieunternehmen aus dem Klima- und Transformationsfonds, wie zuletzt mehrerer Chipfabriken. Die Grünen halten dem entgegen, die am stärksten betroffenen Unternehmen würden davon nicht profitieren; energieintensive Industrien seien von der Steuer ausgenommen, sagte die Vorsitzende Ricarda Lang.

Zudem will die FDP sogenannte Strompartnerschaften stärken, um "langfristig verlässlich günstige Preise zu ermöglichen". Direkte Verträge mit energieintensiven Unternehmen und die Belieferung durch Produzenten erneuerbarer Energien sollen nach diesem Modell eine Stromversorgung zu international wettbewerbsfähigen Konditionen garantieren. Dazu brauche es eine stärkere Standardisierung solcher Arrangements, um diese noch attraktiver machen.

Zugleich aber können sich die Liberalen vorstellen, "in moderne, besonders abfall- und risikoarme Kernspaltungstechnologien" einzusteigen. Gemeint sind damit offenbar unter anderem sogenannte kleine modulare Reaktoren (SMR), deren Entwicklung in den USA, Kanada und Großbritannien, aber auch in China und Russland vorangetrieben wird. Diese könnten ein Zusammenspiel mit den erneuerbaren Energien bilden, "wenn sich zeigen sollte, dass dies für eine ebenso klimaneutrale wie günstige und sichere Energieversorgung nötig ist". Auch in die weitere Entwicklung der Kernfusion setzt die FDP Hoffnungen.

Dabei gab es nach Meseberg doch einen Hauch von Aufbruch

CDU-Chef Friedrich Merz hatte jüngst ebenfalls eine Rückkehr zur Atomkraft gefordert. "Wir würden sofort alle stillgelegten Kernkraftwerke wieder ans Netz nehmen", sagte er der Bild am Sonntag. Es gibt aber eine Menge Gründe, warum das alles nicht so einfach wird: Allein die Anfertigung neuer Brennstäbe dürfte ein Jahr und länger dauern. Eine Genehmigung zum Stromerzeugen haben die deutschen Atomkraftwerke auch nicht mehr - denn mit dem Ende ihrer Laufzeit endete auch die Genehmigung zum "Leistungsbetrieb". Um sie zu verlängern, müssten alle Kraftwerke auf Herz und Nieren geprüft werden. Nachrüstungen würden fällig, denn der Stand von Wissenschaft und Technik hat sich verändert seit den späten Achtzigerjahren.

Im Übrigen müsste auch das Atomgesetz geändert werden, und das zum mittlerweile 20. Mal. Bei der SPD gibt es dazu keine Bereitschaft: Die Beschlusslage in der Koalition dazu sei klar, ließ genervt Fraktionschef Rolf Mützenich wissen. Und dann müssten die Betreiber selbst, die Energiekonzerne EnBW, RWE und Eon auch Interesse haben, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Zuletzt hatten vor allem EnBW und RWE zuallererst auf Klarheit gedrungen. Diese Klarheit heißt seit dem 15. April 2023: Rückbau und Entsorgung.

Aber es gibt eine Ebene hinter diesen Fakten. Als Lemke in Overall und Schutzhelm ein Beispiel für diesen Rückbau in Augenschein nimmt, weiß sie schon von den FDP-Plänen. Sie will sich nur nicht mehr damit beschäftigen, eher wirkt sie fassungslos. Schließlich war auch sie erst einen Tag vorher bei der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg. Danach schwärmte auch sie von einer "wirklich harmonischen" Runde. Es gab, nicht zum ersten Mal nach so einer Klausur, einen Hauch von Aufbruch.

Doch die Idee einer Rückkehr zur Atomkraft wirkt schon einen Tag später wie ein liberaler Angriff auf den grünen Koalitionspartner. "Ich möchte nicht jede Idee aus der FDP-Fraktion kommentieren", sagt sie am Rande des Besuchs im AKWs Greifswald.

Mehr will sie dazu nicht sagen, was auch wieder viel sagt.

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