Asylpolitik:Kann Deutschland das individuelle Asylrecht aussetzen?

Lesezeit: 3 Min.

Geflüchtete warten auf der italienischen Insel Lampedusa auf ihren Transfer nach Sizilien. (Foto: Alessandro Serrano/AFP)

Den CSU-Wünschen nach einer "Obergrenze" steht nicht zuletzt die Europäische Menschenrechtskonvention im Weg. Aber auch an Grenzkontroll-Plänen von Bundesinnenministerin Faeser haben Fachleute Zweifel.

Von Ronen Steinke, Berlin

Nicht nur der CSU-Chef Markus Söder fordert eine "Integrationsgrenze", um die Einreise von Migranten nach Deutschland auf eine bestimmte Anzahl zu beschränken. 200 000 Menschen pro Jahr, diese "Obergrenze" hatte die CSU schon 2015 ins Spiel gebracht. Auch in der Schwesterpartei CDU, die sich damals noch gegen diese Idee gestemmt hatte, schließen sich jetzt immer mehr Politiker dieser Forderung an, das Individualrecht auf Flüchtlingsschutz durch eine freiwillige politische Geste zu ersetzen. Aber wie viel Spielraum hat die Bundesrepublik hier rechtlich überhaupt?

Könnte Deutschland aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten, die individuelle Rechte für Migranten vorschreibt?

Nicht wirklich. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist zwar ein Vertrag, den man prinzipiell kündigen kann. Russland zum Beispiel hat das 2021 getan, mit der Folge, dass nach einer Abklingphase von einem Jahr die Geltung der Konvention für diesen Staat im vergangenen September auslief. Aber für einen EU-Mitgliedstaat wie Deutschland wäre das nicht so einfach. "Das EU-Recht ist mit der Menschenrechtskonvention so stark verwoben, dass das Ausscheren eines Mitgliedstaats aus der Konvention nicht vorstellbar ist", sagt die Juristin Paulina Starski, Professorin für Europa- und Völkerrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Denn: Der EU-Vertrag und auch die EU-Grundrechtecharta lehnen sich heute an vielen Stellen ausdrücklich an die Menschenrechtskonvention an. "Das heißt, faktisch kommt man da nicht raus", sagt Starski - es sei denn, alle EU-Staaten würden gemeinsam beschließen, einen radikalen Schnitt zu machen.

Einige Staaten, die der Europäischen Menschenrechtskonvention angehören, betreiben dennoch eine härtere Flüchtlingspolitik als Deutschland. Warum sollte das nicht auch in Deutschland möglich sein?

Der Weg, den beispielsweise Großbritannien eingeschlagen hat, das trotz seines Ausstiegs aus der EU weiterhin Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, birgt aus Sicht von Fachleuten zumindest große rechtliche Risiken. Großbritannien hat neuerdings eine Vereinbarung mit dem ostafrikanischen Staat Ruanda und schickt seine Flüchtlinge pauschal dorthin. "Es ist eine Frage der Zeit, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg das stoppt", sagt die Erlanger Professorin für Migrationsrecht Anuscheh Farahat. Es sei eine "Umgehungsstrategie", meint die Juristin, und auch britische Gerichte würden deshalb bereits Zweifel anmelden. Die Europäische Menschenrechtskonvention enthält zwar kein Recht auf Asyl. Aber in einem Zusatzprotokoll steht ein Verbot des sogenannten Refoulement, also Zurückweisung, wenn Menschen unmenschliche Behandlung oder Folter zu befürchten haben.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist von 1950. Besteht da nicht Raum für eine Neuinterpretation?

Durchaus. Dieser Raum besteht. Die Menschenrechtskonvention schützt nicht ausdrücklich vor politischer Verfolgung, sondern in ihrem Artikel 3 vor "Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung" im Herkunftsland. "Das wird heute als ein Schutz der Menschenwürde interpretiert", sagt die Migrationsrechtlerin Farahat - auch etwa bei extremer Not, Krieg oder Naturkatastrophen. Diese Interpretation könnte durchaus auch wieder enger werden. Nur in einem Punkt besteht kein Spielraum. Eine starre Obergrenze, wie sie der CSU vorschwebt, ist nicht machbar. "Alles, was mit Pauschalisierungen operiert, ist aus menschenrechtlicher Sicht sehr problematisch, weil Menschenrechte immer auf den spezifischen Schutz von Individuen zielen", sagt die Freiburger Professorin Starski. "Man kann einem Individuum nicht mit dem Argument Schutz verwehren, dass es zu viele andere Individuen mit ähnlichen Problemen gebe."

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat nun Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien angeordnet. Ziel ist, Migranten zu stoppen. Ist es rechtlich möglich, sie sofort zurückzuschicken?

Nein, das ist innerhalb des EU-Gebiets eigentlich nicht erlaubt. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gerade erst am vergangenen Donnerstag in einem Urteil klargestellt, das Frankreich betraf. Grenzkontrollen sind innerhalb des Schengenraums, der die meisten EU-Staaten umfasst, abgeschafft. Ausnahmen darf es laut dem Schengener Abkommen nur in Extremsituationen geben, etwa zur Seuchen- oder Terrorbekämpfung - aber nicht zur bloßen Migrationssteuerung, so haben es die Richterinnen und Richter auch bereits im vergangenen April in einem Fall festgestellt, der Österreich betraf. Derzeit fehlt es aber an einer politischen Autorität, die solche Urteile auch praktisch durchsetzen würde - zum Beispiel mit Geldstrafen. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU), die das könnte, hält sich einstweilen zurück. "Die Richterinnen und Richter reden, aber finden damit in der Politik wenig Gehör", räumt die Migrationsrechtlerin Farahat ein.

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Darf Deutschland seine Grenzen zumindest zeitweise oder stellenweise für Migranten schließen?

Das EU-Recht besagt eigentlich sehr klar: Nein. Wenn ein Drittstaatsangehöriger - etwa aus Syrien, Gambia, Tunesien - an der deutschen Grenze ankommt, muss Deutschland ihm ein geordnetes Verfahren gewähren. Wenn er Asyl begehrt, muss man ihm ein Asylverfahren ermöglichen, so steht es in der EU-Asylverfahrensrichtlinie von 2013. Wenn er das nicht tut, muss Deutschland ihm ein geordnetes Rückführungsverfahren geben, nach der EU-Rückführungsrichtlinie von 2008. Das könnte im Prinzip auch schnell gehen. "Es spräche nichts dagegen", stellt die Rechtsprofessorin Farahat klar, "dass man die Justiz und die Verwaltung so ausstattet, dass sie das binnen weniger Tage schafft." Derzeit dauere das im Falle Deutschlands oft Monate. Aber es sei rechtlich ausgeschlossen, dass Deutschland Menschen an der Grenze einfach abweist.

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