Wenn sich Großereignisse jähren, schlägt auf dem Buchmarkt die Stunde der Großanalysten: Zeitzeugen ziehen Bilanz, Wissenschaftler sortieren die Zeitgeschichte von eben für die Geschichtsschreibung vor. Im Corona-Winter 2020/2021 jähren sich jene Volksaufstände zum zehnten Mal, die einst hoffnungsvoll "Arabischer Frühling" genannt wurden - doch die Zahl der nun auf Deutsch erscheinenden Jubiläumsschriften ist erstaunlich übersichtlich.
Das mag daran liegen, dass jedes Buch über die vergangene Dekade in der arabischen Welt ein tristes werden muss. Die Bilanz des Aufbruchs von 2011 fällt ernüchternd aus: Nur das kleine Tunesien hat den Übergang zur Demokratie gemeistert, ist aber wegen seiner wirtschaftlichen Schwäche instabil. Ansonsten folgten versuchten oder gelungenen Diktatorenstürzen die Restauration (Ägypten, Bahrain) oder blutige Bürgerkriege (Syrien, Jemen, Libyen).
Zu diesem Fazit kommt auch Ex-Korrespondent Jörg Armbruster, der Fernsehgeschichte schrieb, als er in der ARD sein Mikrofon vom Balkon aus in Richtung Tahrir-Platz hielt - um den Jubel einzufangen, der dort in diesem Moment aufbrandete: Während der Liveschalte in die "Tagesschau" war Dauerpräsident Mubarak zurückgetreten.
Protest und Revolution:Was vom Arabischen Frühling übrig geblieben ist
Als sich der Tunesier Mohamed Bouazizi vor einem Jahrzehnt selbst in Brand steckte, löste dies ein Lauffeuer in der ganzen Region aus. Die Hoffnungen auf demokratischen Wandel erstickten vielerorts in Gewalt oder erneuter autoritärer Herrschaft.
Eine ähnliche Bilanz zieht Ex-Politiker Franz Maget, der nach seiner Karriere bei der Bayern-SPD als Sozialreferent an den deutschen Botschaften in Tunis und Kairo wirkte. Ein Karriereschritt, der damals überraschte - für einen, der jahrzehntelang und letztlich erfolglos auf die Ablösung einer übermächtigen Staatspartei hinarbeitete, aber vielleicht folgerichtig war.
Um in ihren Werken aber nicht nur die viel erzählte Geschichte zu wiederholen, wie die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers zu jenem Funken wurde, der die gut brennbare Mischung aus Willkürherrschaft, wirtschaftlichem Niedergang und Bevölkerungswachstum zur Explosion brachte, geben sich beide Mühe, den Blick nach vorne zu richten: "Zehn Jahre Arabischer Frühling - und jetzt?", heißt es auf Magets Buchdeckel, "Die Erben der Revolution. Was bleibt vom Arabischen Frühling?" bei Armbruster.
Jörg Armbuster nimmt vor allem den Sudan in den Blick
Beide Bücher beginnen mit einem Fragezeichen, sie enden auch mit welchen. Eine finale negative Antwort auf die Problemstellung "Können arabische Länder Demokratie" möchten beide Autoren noch nicht geben: Die Hoffnungen von 2011 mögen enttäuscht worden sein, doch die Erfahrung der Selbstermächtigung wird sich nach Überzeugung der Autoren nicht aus dem Bewusstsein der Menschen löschen lassen. So ist die "zweite Welle" der Arabellion bereits am Laufen, in Algerien und im Sudan fielen 2019 zwei Langzeitpräsidenten.
Besonders Armbruster räumt dem Sudan Raum ein. Er kann auf viel Vorwissen, Personen- und Ortskenntnis aus seiner Zeit als Korrespondent zurückgreifen und reiste vor Ausbruch der Covid-Pandemie nochmals an den Nil, um sich von Aktivisten und vor allem Aktivistinnen vor Ort ihre Sicht erklären zu lassen.
Das ist verdienstvoll, wie auch in den anderen Kapiteln seines Buches widerstand Armbruster der Verlockung, einfach nur das Best-of seiner Berichterstattung neu zu remixen. Er ist Reporter geblieben, will verstehen - und dafür vor Ort sein. Der Fokus auf die verspätete Nation Sudan dient zugleich als Kontrastmittel, um Versäumnisse der Revoluzzer von 2011 deutlich zu machen.
Dass es Armbruster sich erlaubt, die hierzulande weniger berichtete Geschichte der sudanischen Revolution breit zu erzählen, hat Nebenwirkungen: Wohl um sich und die Leser nicht zu überfordern, entschied sich Armbruster, das arabische Jahrzehnt anhand von nur drei Ländern abzuhandeln: Sein Ex-Korrespondentenstandort Ägypten nimmt als größtes arabisches Land viel Raum ein, nach den sudanesischen Kapiteln folgt ein Blick auf Tunesien.
Dieser Buchaufbau ist schon der Chronologie wegen eigenwillig - und so fruchtbar es oft ist, lieber in wenigen Fällen in die Tiefe zu gehen, denn in der Breite alles abzuhaken: Die Katastrophen Jemens, Libyens und vor allem Syriens kommen hier arg kurz.
Franz Maget versucht sich eher an Vollständigkeit
Obwohl sein Buch knapp 100 Seiten kürzer ist, versucht sich Maget eher an Vollständigkeit. Will die Großregion einerseits geografisch abarbeiten, hier und da Begriffe in Kästchen erklären, dazu noch Kapitel zu Religion und Frauenrechten unterbringen - dazu hat er teils Gastautoren um Beiträge gebeten.
In den von ihm verfassten Kapiteln merkt man, dass hier einer geschrieben hat, der selbst einmal Politik gemacht hat: Während Armbruster lieber selbst erzählt oder Protagonisten das Wort gibt, lässt Maget gern Zahlen sprechen, erklärt das Zusammenspiel von Institutionen. Besonders auf die Rolle von Gewerkschaften geht er als Sozialdemokrat vielleicht nicht zufällig gründlich ein.
Einen Hauptunterschied zwischen den Werken des Ex-Reporters und des Ex-Politikers macht ihr Blick auf die Rolle des eigenen Kulturkreises aus: Während Armbruster als ein Vertreter der vierten Gewalt hier die Doppelmoral des Westens, der Demokratie predigt und Despoten fördert, solange sie Flüchtlinge und Terroristen in Schach zu halten versprechen, vor allem anprangert, würdigt Maget als zeitweiliger Berater des Bundesentwicklungsministeriums lieber die kleinen Erfolge der transnationalen Zusammenarbeit, formuliert eher kleine Handlungsempfehlungen denn Generalkritik.
Dass die Bilanz zum nächsten Jubiläum des Großereignisses Arabischer Frühling jedoch sehr anders ausfallen könnte - diese Hoffnung stützen beide Autoren ohnehin eher auf den Freiheitsdrang der Menschen in der Region als auf ihre mal mehr, mal weniger ehrlich engagierten Begleiter aus dem Ausland.