So viel Nervosität hat es in der Bundesregierung schon lange nicht mehr gegeben. Auf eigenartige Weise hat sich die Hauptstadt an ständige Enthüllungen aus dem Reich der Geheimdienste gewöhnt - entsprechend leicht fiel es der Regierung in den vergangenen Monaten, alle neuen Skandale abzumoderieren. Doch diesmal ist alles anders.
Die Nachricht von den Landesverrats-Ermittlungen gegen die Journalisten Markus Beckedahl und Andre Meister vom Blog Netzpolitik.org löste gewaltige Empörung aus. Zwar ist die Spiegel-Affäre seit mehr als einem halben Jahrhundert Geschichte, das Gespür für den Wert der Pressefreiheit ist aber geblieben.
Auch deshalb verursachten die Ermittlungen der Karlsruher Bundesanwaltschaft, über die Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR vorige Woche berichtet haben, im Kanzleramt und den zuständigen Ministerien weiche Knie und Aufregung. Jeder hatte Angst, dafür haftbar gemacht zu werden. Viele Verantwortliche tauchten zunächst ab. Erst nach und nach traute man sich mit Erklärungen an die Öffentlichkeit.
Die Minister wollen von den Ermittlungen nichts gewusst haben
Das Bundesinnenministerium ließ dann wissen, Minister Thomas de Maizière (CDU) habe von nichts gewusst. Nur seine Staatssekretärin Emily Haber und der zuständige Abteilungsleiter seien vom Bundesamt für Verfassungsschutz über dessen Anzeigen informiert worden. Aber da sei es um Dienstgeheimnisse gegangen, nicht um Ermittlungen gegen Journalisten. Man sei überrascht, dass Journalisten betroffen seien, hieß es. Natürlich nicht offiziell. Das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) beteuerte, man suche doch nur die Quellen von Netzpolitik.org. Verfahren gegen Journalisten habe man nicht gewollt.
Das Kanzleramt ließ erklären, es habe von den Ermittlungen gegen die Journalisten vorab nichts gewusst. Und Justizminister Heiko Maas, dessen Haus der Dienstherr der Karlsruher ist, äußerte Zweifel am Sinn des Ermittlungsverfahrens und würdigte ausführlich die Pressefreiheit.
Wenn eine solche Affäre anrollt, ist sich jeder selbst der Nächste. Beim Versuch einer Chronik der Ereignisse drängt sich aber der Eindruck auf, dass die Überraschung einiger der Beteiligten nicht echt sein kann. Etliche Spitzenleute in Berlin kannten früh die Einzelheiten, sie wussten, dass Range gegen Journalisten wegen Landesverrats ermittelt - und sie ahnten wohl, dass das nicht gut ausgehen könne. Aber jetzt reiben sie sich die Augen.
Hans-Georg Maaßen ist in der Welt der Nachrichtendienste ein Radikaler
Zwei Hauptdarsteller gibt es in dem Skandalstück. Der eine ist Generalbundesanwalt Harald Range, 67. Ein freundlicher Herr, nicht sehr entscheidungsstark. Früher war er Generalstaatsanwalt in der Beamtenstadt Celle. In Karlsruhe sagen sie, Range mache, was die Berliner wollten. In Berlin sagen sie, dass Range seine Behörde nicht im Griff habe. Die Bundesanwälte machten mit ihm, was sie wollten.
Und da ist Hans-Georg Maaßen, 52, der Chef des BfV. Wenn man ihn beschreiben möchte, ist auch aus Sicht von Fachleuten in Berlin die Bezeichnung Scharfmacher eine weiche Formulierung. Er hat schon alle Fanfaren der alltäglichen Gefahr, die angeblich alle bedroht, geblasen. In der Welt der Nachrichtendienste ist er ein Radikaler. Und wo Verschwörungen stattfinden, sind Geheimdienste nicht weit.
Fest steht: Die Geheimdienstwelt ärgert schon lange, dass ständig geheime oder vertrauliche Dokumente an Medien gelangen, darunter auch manches, was möglicherweise besser vertraulich bliebe. Besonders Maaßen ärgert sich darüber. Dass Angela Merkel offenbar höchstpersönlich im Herbst 2014 Strafanzeigen stoppen ließ, in denen vom Verrat von Dienstgeheimnissen die Rede war, ist aus Sicht der berufsmäßigen Warner ein Ärgernis.
Zunächst wird kein Ermittlungsverfahren eingeleitet
Die Chronik dieser Affäre beginnt am 25. März. Einen Monat zuvor, am 25. Februar, Punkt 10.40 Uhr, hatte Netzpolitik.org Auszüge aus Unterlagen des Verfassungsschutzes über die geplante "Massenauswertung von Internetinhalten" veröffentlicht. Nichts Sensationelles. Darüber war auch schon früher anderswo berichtet worden. Maaßen aber ließ Anzeige erstatten. Nicht bei der zuständigen Staatsanwaltschaft, sondern bei den Staatsschützern vom Berliner Landeskriminalamt (LKA).
Diese Abteilung ist für normale Dienstgeheimnisse nicht zuständig, kann aber beim Verrat von Staatsgeheimnissen ins Spiel kommen. In der ersten Strafanzeige findet sich gleich der Name des Netzpolitik.org-Chefredakteurs Beckedahl. Das BfV ersucht die Kollegen vom polizeilichen Staatsschutz, die Sache "unter allen rechtlichen Gesichtspunkten" zu prüfen. Anfang April legt das Berliner LKA die Anzeige dem Generalbundesanwalt vor.
In Karlsruhe wird zunächst kein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Maaßens Strafanzeige bekommt ein ARP-Aktenzeichen. Das steht für "Allgemeines Register für politische Staatsschutzstrafsachen", und man denkt an Bürokratie und an Ablage.
Am 16. April schickt der Verfassungsschutz eine zweite Anzeige ans LKA. Einen Tag zuvor hatte der Blog Dokumente in einem Bericht mit dem Titel: "Geheime Referatsgruppe: Wir präsentieren die neue Verfassungsschutz-Einheit zum Aufbau der Internet-Überwachung" veröffentlicht. Das BfV lieferte dem LKA auch ein Organigramm, wer im Amt mit der Sache befasst war. Wieder taucht der Name Beckedahl auf. Und diesmal auch der Name des Autors der Geschichte, Andre Meister. Die Anzeige geht wieder nach Karlsruhe.
Der Generalbundesanwalt zögert. Eigentlich hat er für solche Fragen Fachleute im Haus, aber er bittet zunächst den Verfassungsschutz um ein Behördengutachten. Wie schlimm denn die Veröffentlichungen wirklich seien, will also Karlsruhe von Köln erfahren. Für einen Verrat von Dienstgeheimnissen wäre der Generalbundesanwalt nicht zuständig. Kurz drauf liefert Maaßens Behörde ein umfangreiches Behördengutachten. Angeblich ist das alles eine schwere Beeinträchtigung der Arbeit der Verfassungsschützer. Die Blogger hätten ein Staatsgeheimnis verraten.
Ein Blick ins Gesetz macht klar, um was es von jetzt an geht. Die Veröffentlichung von Dienstgeheimnissen ist für Journalisten normalerweise straffrei. Aber wenn es um Staatsgeheimnisse geht, sind sie dran. Das Justizministerium erfährt von dem ARP-Vorgang und rät ab. So heißt es jedenfalls heute in Berlin. Von regelrechten Warnungen aus dem Justizministerium will man in Karlsruhe hingegen nichts wissen. Am 13. Mai leitet die Bundesanwaltschaft ein Verfahren wegen Verdachts auf Landesverrat gegen Beckedahl und Meister sowie gegen unbekannt ein. Das meint den unbekannten Informanten.
Ihr Forum:Institutionen vs. Netzaktivismus: Was braucht Demokratie heute?
Die Tahrir-Revolutionäre in Kairo, die Occupy-Bewegung oder die Gezi-Proteste: Sie mobilisierten zwar die Leute, ihre Ziele erreichten sie jedoch nicht. Auch wenn Proteste für eine Demokratie essenziell sind - ohne Institutionen werden sie zu Luftnummern, schreibt Verfassungsrechtler Meyer-Resend.
Auf allen Ebenen macht das Justizministerium klar, was man von dem Verfahren hält
Erst am 27. Mai, das verrät der Eingangsstempel, wird das Bundesjustizministerium schriftlich von den Karlsruhern informiert. Zwei Wochen zwischen Einleitung und Benachrichtigung der vorgesetzten Dienststelle - das ist ungewöhnlich.
Auf allen Ebenen, so wird es jedenfalls im Justizministerium kolportiert, macht fortan Berlin den Karlsruhern klar, dass man große Bauchschmerzen habe. Das Verfahren habe doch keine Aussicht auf Erfolg. Justizstaatssekretärin Stefanie Hubig redet mit Range am Rande von Sitzungen. Der soll genickt und dann doch weitergemacht haben. In Kreisen der Bundesanwaltschaft erinnert man sich nicht an heftige Interventionen aus Berlin.
Hubigs Chef, Justizminister Heiko Maas, lässt sich über alles informieren. Er könnte formal Karlsruhe anweisen, nicht zu ermitteln, aber er lehnt prinzipiell solche Weisungen ab. Wo soll das enden?
Eigentlich könnte der Generalbundesanwalt das Verfahren einstellen
Das Justizministerium kennt jeden Schritt der Karlsruher. Sogar eine Kopie des Behördengutachtens des BfV liegt dort vor. Aber Range bleibt unsicher, und das Justizministerium will den Vorgang nicht selbst stoppen. Das ist Prinzip. Die Expertise einer obersten Behörde einfach in den Papierkorb zu werfen - das wiederum kommt jemandem, der aus Celle kommt, nur schwer in den Sinn. Range will noch einen externen Gutachter fragen, ob es sich wirklich um ein Staatsgeheimnis handelt. Ein junger Wissenschaftler will das machen, zuvor haben mehrere ehemalige hohe Richter den Auftrag abgelehnt. Das BKA wird mit den Ermittlungen betraut. Soll man wirklich glauben, dass das Innenministerium nichts weiß und dass das Kanzleramt, wo man sich zur Nachrichtendienstlichen Lage trifft, keine Ahnung hat?
Am 4. Juli meldet der Deutschlandfunk, Maaßen habe Anzeigen wegen angeblichen Geheimnisverrats gestellt. Der Präsident, so beschreibt es der einfühlsame Berichterstatter, wolle nicht mehr "wie das Kaninchen vor der Schlange verharren". Maaßen ziele "nicht auf die Medien". Kurz darauf ist das Thema in der Bundespressekonferenz. Der Regierungssprecher mag das alles nicht bewerten und rät, beim Bundesinnenministerium anzufragen. Aber diese Bundesregierung, das scheint ihm wichtig zu sein, achte "ganz besonders Pressefreiheit als ein hohes Gut".
Um die Verjährung zu verhindern, setzt man die Blogger in Kenntnis
Beim Generalbundesanwalt fürchtet man derweil, die Angelegenheit könne verjähren. Wenn Medien im Spiel sind, gelten andere Fristen. Man könnte, um die Verjährung zu unterbrechen, bei Netzpolitik durchsuchen oder Beckedahl und Meister verhaften. Das erscheint den Karlsruhern aber als zu weitgehend, weil sie ja nicht wissen, ob es sich wirklich um ein Staatsgeheimnis handelt. Range persönlich soll angewiesen haben, dass es zu keinen solchen Maßnahmen komme. Um die Verjährung zu verhindern, teilt dann die Bundesanwaltschaft den Bloggern mit, dass gegen sie ermittelt wird.
Das alles ist nicht leicht zu verstehen. Auch löste die Nachricht, der externe Gutachter sei in Urlaub gegangen, in Berlin Fassungslosigkeit aus. Jetzt will das Bundesjustizministerium eine eigene Expertise vorlegen. Das Ergebnis scheint klar zu sein: kein Staatsgeheimnis. Eigentlich könnte Range das Verfahren einstellen.