Wenn sich BND-Präsident Gerhard Schindler über Zeugenaussagen im NSA-Untersuchungsausschuss informieren will, liest er, wie Vertraute berichten, den Blog Netzpolitik.org im Internet. Eine gute Quelle offenbar. Mehrere hochrangige Nachrichtendienstler gaben in dem Ausschuss an, sie hätten sich anhand von Protokollen des Blogs auf ihren Auftritt vorbereitet. Sie lesen, was in der Regel Andre Meister, 30, mitgeschrieben hat. In jeder öffentlichen Ausschusssitzung sitzt er mit dem Laptop auf der Besuchertribüne und tippt ein Live-Protokoll. Manchmal bis spät in die Nacht.
Am 9. Oktober 2014 schrieb er: "15 Uhr, es geht weiter. Ich habe einen eigenen Polizisten hinter mir sitzen, dessen Aufgabe es ist, mich zu beobachten. Laut Eigenauskunft ist sein Name Herr Meyer und seine Dienstnummer 122."
Die Bundestagsverwaltung entschuldigte sich später bei Meister. Und das Sekretariat des Untersuchungsausschusses erklärt, warum der Beamte dem Journalisten über die Schulter geschaut hat, so: Die Polizei des Bundestages habe an diesem Tag prüfen sollen, ob einer der Besucher die Sitzung unerlaubt filme und ins Internet übertrage.
Post vom Generalbundesanwalt
Die Sache mit Herrn Meyer war vergleichsweise harmlos. Die Sache mit Herrn Maaßen ist es nicht. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) hat nicht wegen der Protokolle, sondern wegen der Veröffentlichung von Originaldokumenten Strafanzeige erstattet. Daraus ist jetzt das Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des Blogs wegen des Verdachts auf Landesverrat geworden.
Die Bundesanwaltschaft verweigert jede Stellungnahme, aber Netzpolitik.org hat am Donnerstag Post vom Generalbundesanwalt erhalten. Ermittelt wird gegen den Schnellschreiber Meister sowie gegen Markus Beckedahl, 38. Er ist Gründer und Chefredakteur von Netzpolitik.org, Initiator der Konferenz re:publica und Mitglied im Medienrat der Medienanstalt Berlin-Brandenburg. Ermittelt wird auch gegen Unbekannt. Damit ist die Quelle gemeint. "Es ist seltsam, dass der Staat gegen einen ermittelt, weil man sich für Grundrechte einsetzt", sagt Beckedahl.
Ausgezeichnet mit dem Grimme-Online-Award
Es werde zunehmend klar, dass die Bundesregierung "knietief im Sumpf von NSA und Co" stecke. "Wir haben jetzt den Verdacht, dass sie durch solche Strafanzeigen scharf schießen gegen diejenigen, die dazu beitragen wollen, diesen größten Überwachungsskandal in der Geschichte der Menschheit mit aufdecken zu wollen". Netzpolitik.org ist so etwas wie das Referenzmedium für Digitales. Vor zwölf Jahren hat Beckedahl damit begonnen, über Konferenzen zum Thema Netzpolitik eine Art Tagebuch zu führen. Heute arbeiten neben Beckedahl und Meister drei festangestellte Journalisten und diverse freie Autoren für die "Plattform für digitale Freiheitsrechte". Der Blog lebt von Spenden. 2014 wurden die Journalisten des Blogs für ihre Arbeit mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet.
Auch im politischen Berlin wird der Blog längst nicht mehr nur im einschlägigen Milieu wahrgenommen: Vorratsdatenspeicherung, Bundestrojaner, die Netzsperren gegen Kinderpornografie, die Enthüllungen Edward Snowdens - das sind die klassischen Themen. Die Journalisten Meister und Beckedahl wurden im Netz sozialisiert. "Da ist es Standard, auf Originalquellen zu verlinken", sagt Meister.
Als sich Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) im Herbst vorigen Jahres bei dem Ausschussvorsitzenden Patrick Sensburg (CDU) über die Veröffentlichung interner Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes (BND) beschwerte, die dem Gremium vorgelegen hatten, und mit strafrechtlichen Konsequenzen drohte, da schrieben einige Blätter über die Drohung des Ministers.
Netzpolitik.org reagierte anders. Der Blog stellte den Brief Altmaiers an Sensburg im Wortlaut ins Netz. Beckedahl und Meister kommen aus der Hacker-Szene und der Open-Source-Welt. "Open journalism" nennt das Beckedahl. "Die Leser haben ein Recht darauf, sich selbst ein Bild zu machen."
Sollen Informanten eingeschüchtert werden?
Diese neuartige Offenheit hat wohl die Staatsschützer dazu gebracht, das Landesverratsverfahren gegen die Verantwortlichen von Netzpolitik.org einzuleiten. Ein Auszug des geheimen Haushalts des Dienstes im Wortlaut online, ein ausführlicher Personalplan im Original - das war den Nachrichtendienstlern offenbar zu viel.
Beckedahl vermutet, dass mit der Strafanzeige des Verfassungsschutz-Präsidenten vor allem Informanten eingeschüchtert werden sollen. Denn auch klassische Medien veröffentlichen immer häufiger Originaldokumente zu investigativen Geschichten. Beckedahl glaubt, dass es für die Dienste einfacher sei, an Netzpolitik.org ein Exempel zu statuieren als an Zeitungen oder Magazinen. "Wir sind das kleinste Medium", sagt Beckedahl. "Aber wir haben noch viel Platz auf unserem Server."