Al-Dschasira:Beobachter mit Einfluss

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Proteste und Unruhen haben sich über Tunesiens Grenzen hinaus in Nordafrika und der arabischen Welt ausgebreitet. Welche Rolle spielen dabei die Berichte des Senders al-Dschasira?

Markus C. Schulte von Drach

Die Machthaber in Tunesien reagierten extrem nervös, als der arabische Sender Al Jazeera im Dezember ausführlich über die Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers und die anschließenden blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften berichtete.

Al-Dschasira zufolge löste die Selbstverbrennung eines jungen Mannes die Unruhen in Tunesien aus. Und die Berichte des Senders tragen möglicherweise zur Ausweitung der Proteste über die Landesgrenzen bei. (Foto: screenshot)

Schnell warf die Regierung in Tunis al-Dschasira vor, mit verzerrten Darstellungen eine "Stimmung aus Hass und Unmut" zu erzeugen, mit dem Ziel "Chaos, Instabilität und Misstrauen" zu schaffen. Eine "schrille Kampagne", wie das Committee to Protect Journalists mit Sitz in New York, kritisierte.

Doch welche Rolle spielt der Sender al-Dschasira tatsächlich für die Unruhen in Tunesien, die Proteste in anderen arabischen Ländern und die Reaktionen der betroffenen Regierungen?

Mit Sicherheit ist der Einfluss auf die Bürger der betroffenen Staaten groß. Al-Dschasira ist der wichtigste Sender in der arabischen Welt. Seine Beiträge erreichen etwa 40 Millionen Menschen täglich.

Und bei seiner Berichterstattung aus Tunesien setzt der Sender auffällig stark auf Bilder und Aussagen von Augenzeugen oder Beteiligten direkt am Schauplatz der Ereignisse, "die im Augenblick starker Emotionen ihre Meinung zum Besten geben", wie die Los Angeles Times feststellte. Solche Beiträge von "Bürger-Journalisten" und "Bürger-Fotografen" sind einer objektiven Darstellung nicht unbedingt förderlich - auch wenn man beim Sender selbst betont, alle Seiten kämen zu Wort.

Die Bürger der nahen und fernen Nachbarländer Tunesiens jedenfalls interessieren sich plötzlich sehr für eine Revolution, die sie quasi live verfolgen können. Und die Bilder von Plünderungen der Villas der tunesischen Präsidentenfamilie durch aufgebrachte Demonstranten dürften den Willen zum Widerstand bei Aktivisten in der ganzen Region angefeuert haben.

Aufgrund seiner teilweise martialischen Sprache und der Veröffentlichung von Al-Qaida-Videos galt al-Dschasira im Westen lange als Sprachrohr für extreme Islamisten und Terroristen. Wird der Sender nun ein Werkzeug liberaler Oppositioneller gegen die Machthaber in den wenig oder gar völlig undemokratisch regierten arabischen Ländern?

Tatsächlich galt al-Dschasira lange als weitgehend unabhängig, im Gegensatz zu den meisten anderen arabischen Medien, die von den jeweiligen Machthabern als Propaganda-Plattformen genutzt werden.

Gerade dies dürfte einen großen Teil des Erfolgs in und außerhalb des Emirats Katar erklären, dem Hauptsitz des Senders. Der Emir hatte das Unternehmen 1996 mit ehemaligen Angestellten des gescheiterten arabischen BBC-Ablegers Arab TV gegründet. Erstmals wurde nun im Fernsehen auch über die teilweise schlechte ökonomische und soziale Lage der Menschen in den arabischen Ländern berichtet, erstmals kamen sogar liberale Intellektuelle zu Wort.

Seitdem hat sich der Sender durch Beiträge ausgezeichnet, die nicht nur gegenüber den USA und ihren Verbündeten äußerst kritisch sind. Auch viele arabische Regierungen wurden immer wieder so heftig kritisiert, dass die Ausstrahlung von Beiträgen außerhalb Katars verhindert, Mitarbeiter festgenommen und Büros geschlossen wurden wie etwa im vergangenen Dezember in Kuwait. Der Sender hatte dort ein Video über Polizeigewalt gegenüber Oppositionellen veröffentlicht.

Auf der anderen Seite bietet der Sender gerade radikalen Islamisten immer wieder eine Plattform. Und noch immer ist al-Dschasira auf Geld seines Gründers Scheich Hamad bin Chalifa Al Thani angewiesen. Und dem wird nachgesagt, er wolle über den Sender seinen Einfluss in der arabischen Welt vergrößern.

Dafür spricht tatsächlich einiges. So hatte der Emir unter dem Druck Saudi-Arabiens der New York Times zufolge bereits 2008 seinen Einfluss genutzt, Kritik an den saudischen Machthabern zu unterdrücken. Und Dokumenten zufolge, die Wikileaks 2010 veröffentlichte, gehen US-Diplomaten davon aus, dass der Sender von der Regierung gezielt benutzt wird, um arabischen Machthabern Konzessionen abzuringen nach dem Motto: Wohlverhalten gegen wohlgesonnene Berichterstattung. Solche Deals habe es mit Saudi-Arabien, Syrien und Jordanien gegeben, heißt es.

Al-Dschasira reagierte mit einer Gegendarstellung: Zwar gebe es großen Druck durch regionale und internationale Regierungen - aber die Programmpolitik sei deshalb nicht verändert worden.

In Kairo, Amman und anderen Hauptstädten der Region beklagt man jedoch, al-Dschasira mache nur auf das Versagen der dortigen Regierungen aufmerksam, während der Sender wenig tue, um Licht auf die Sünden einiger Staaten am Persischen Golf - insbesondere Katar - zu werfen, berichtet die Los Angeles Times.

Wie die US-Zeitung weiter schreibt, konzentriert sich der Sender angeblich auch bei den Vorgängen in Tunesien auf die religiösen Aspekte. So wurde Ben Ali verdächtigt, als Verbündeter der USA tunesische Islamisten bekämpft, eingesperrt und ins Exil gejagt zu haben. In Beiträgen zu Tunesien kommen dem Blatt zufolge Islamisten auch häufiger zu Wort als andere Oppositionelle.

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