Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Die deutsche Demokratie hat Geburtstag. Sie wird am kommenden Freitag hundert Jahre alt. Vor hundert Jahren verloren der Kaiser, die Könige und die Fürsten ihre Macht in Deutschland, Deutschland wurde Republik. Der Hohenzollern-Kaiser Wilhelm wurde ins Exil nach Holland geschickt. Die Politik von Blut und Eisen, die bei der Entstehung des deutschen Kaiserreichs Geburtshilfe geleistet hatte, war zu schlechter Letzt zu ihrem Totengräber geworden.
Das deutsche Schicksalsdatum
Ein Traum wurde wahr - der Traum des Hambacher Fests von 1832, der Paulskirchentraum von 1848, der Traum, für den Robert Blum, der große deutsche Demokrat und Republikaner, siebzig Jahre vorher hingerichtet worden war. Blum, viel zu wenige kennen noch seinen Namen, war einer der Anführer der gescheiterten demokratischen Revolution von 1848 gewesen. Er wurde am 9. November 1848 von der Konterrevolution hingerichtet. Das ist jetzt 170 Jahre her. Genau siebzig Jahre später, am 9. November 1918, nachdem sich das deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg ruiniert und zwei Millionen Soldaten in den Tod getrieben hatte, rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die deutsche Republik aus.
Ein Festtag, ein Feiertag, ein Tag voll von Hoffnungen - von denen sich etliche auch sogleich erfüllten: Das Frauenwahlrecht wurde eingeführt, die Gewerkschaften wurden anerkannt, Tarifverträge gesetzlich respektiert - und die Verfassung, die sodann geschrieben wurde, war nicht, wie heute oft behauptet wird, ein Murks, sondern ein Glanzstück. Die Weimarer Verfassung hat versucht, aus der jungen Republik eine Grundrechterepublik zu machen. Es ist ihr nicht geglückt. Aber es stehen dort Artikel, die man heute noch mit Respekt und Stolz zitieren mag: "Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen." So der Artikel 151 Absatz 1 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung.
Die Geburt der deutschen Republik: nicht einmal ein Festlein?
Man kann nicht sagen, dass die Geburt der deutschen Republik heute rauschend gefeiert würde. Verglichen mit dem Lutherjahr, bei dem das Gedenken und Feiern, das Jubilieren und das Kritisieren schier nicht mehr aufhörte, ist das Fest der Demokratie nicht einmal ein Festlein. Keine große Einladung, keine große Feier, kein Feuerwerk, keine Festakte. Das Wagnerjahr ist größer begangen worden. Deutsche Revolution? Es gibt keine Revolutionshelden (obwohl es sie gäbe), es gibt keinen Revolutionsmythos (obwohl es ihn bräuchte), es gibt nicht einmal eine dankbare Erinnerung (obwohl sie so wichtig wäre). Niemand mehr kennt die Revolutionslieder, niemand kennt mehr die Orte, an denen sie gesungen wurden.
Als auf der Theresienwiese das große Abenteuer begann
Die Theresienwiese in München kennt jeder als den Ort des Oktoberfestes, aber kaum jemand mehr als den Ort, wo schon am 7. November 1918 auf einer Massenversammlung die Revolution in Bayern ihren Ausgang nahm. Diese Revolution war eine wundersam friedliche ohne jedes Blutvergießen - bis zu dem Tag, an dem Kurt Eisner, der ihr Anführer und der erste bayerische Ministerpräsident war, von Graf Arco-Valley, einem Nazi, in der Prannerstraße erschossen wurde; das war am Morgen des 21. Februar 1919. Bis dahin war Bayern das Musterland der deutschen Revolution gewesen. Eisner war in der kurzen ihm gegebenen Zeit ein begnadeter Revolutionsmanager und der wohl schöpferischste Staatsmann der deutschen Revolution gewesen. Sebastian Haffner, der große Publizist, hat über ihn geschrieben: "Eisner hatte ... vom ersten Tag an einen klaren Blick für die internationale Lage des besiegten Deutschlands und eine klare außenpolitische Konzeption: Er sah die Gefahr des Diktatfriedens und suchte ihr zuvorzukommen durch eindrucksvolle Beweise des Bruchs mit dem Alten im Innern und durch direkte Kontakte nach außen." (Zur Münchner Räterepublik siehe auch Holger Gertz, "Dichter dran".
Die deutsche Revolution - verzerrt, verhöhnt, verketzert
Die deutsche Revolution wird bis heute verketzert und bespöttelt, sie wird verzerrt und verhöhnt. Zu Unrecht. Die zehn Wochen vom Sturz der Monarchie am 9. November 1918 bis zur Wahl der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 sind die Wochen der Wehen der deutschen Demokratie. In diesen Wochen zeigten sich Glanz und Elend, Traum und Trauma, Angst vor dem Chaos und die Hoffnung auf eine kluge Selbstorganisation der Gesellschaft. Es ist die Zeit des Wünschens und des Wagens, eine Zeit des großen Aufbruchs und des großen Zagens. Das Zagen wird verkörpert von den Mehrheitssozialdemokraten mit Friedrich Ebert an der Spitze, die sich nicht als Gründerväter einer Demokratie, sondern nur, wie Ebert es in seinem Rechenschaftsbericht an die Nationalversammlung formulierte, als "Konkursverwalter des alten Regimes" verstanden. Die neue Regierung beließ, und das war einer ihrer großen Fehler, auch offen und massiv illoyale Beamte und Richter in ihren Ämtern.
Die Wehen der deutschen Demokratie
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird zum 100. Geburtstag der deutschen Demokratie am Freitag um 9 Uhr im Bundestag eine Rede halten. Zwei Stunden später nimmt er teil an der Gedenkveranstaltung des Zentralrats der Juden in Deutschland zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht, am Abend spricht er zum "Pogrom 1938" in der Berliner Akademie der Künste. Dieser Pogrom ist das Fanal für die Großverbrechen der Nationalsozialisten. 80 Jahre ist das nun her. Es ist dies ein Gedenktag, der sich wie ein Schatten auf den Feiertag der Demokratie legt. Man wirft ihr vor, man wirft der Revolution von 1918 und den Institutionen, die sie geschaffen haben, vor, die Nazis nicht verhindert zu haben. Hitler war nicht eine Folge, auch nicht ein Kollateralschaden der deutschen Revolution von 1918, er war, wie der britische Ökonom Lionel Robbins richtig sagte, "das Ziehkind der Inflation", des großen Geldverfalls im Jahr 1923, dem soziale Verelendung folgte. Am Ende des Jahres 1923 hatte sich die Anzahl der Empfänger staatlicher Fürsorge im Vergleich zu 1913 verdreifacht.
Als Onkel Hans auf Hitler schoss
Das lenkt den Blick auf noch einen 9. November, den 9. November 1923 - es ist dies das Datum des gescheiterten Hitler-Putsches in München vor 95 Jahren. Adolf Hitler und Erich Ludendorff nahmen sich Mussolinis Marsch auf Rom zum Vorbild, besetzten das Rathaus, nahmen sozialistische Stadträte als Geiseln, wollten die parlamentarische Demokratie stürzen und ein diktatorisches Regime errichten. An der Feldherrnhalle wurde der Zug der Putschisten von der Landespolizei und Bayerischen Bereitschaftspolizei gestoppt. Es fielen Schüsse. Der Kommandant des ersten Zuges und drei Wachtmeister starben. Das Feuer der Polizisten tötete dann als ersten Putschisten Max Erwin von Scheubner-Richter, der den eingehakten Hitler mit zu Boden riss. Mein Onkel Hans war unter den Bereitschaftspolizisten, die den Putsch beendeten. Bei vielen Geburtstagsfeiern hat er davon erzählt. "I hob selmals auf den Hitler angelegt, aber: I hob an ned dawischt, den Hund." Onkel Hans war ein hünenhafter Kerl. Er verstand das so zu erzählen, dass es einen immer wieder schauderte - weil er, wie er einem zu verstehen gab, ein paar Sekunden lang, die Weltgeschichte hätte verändern können.
Ein deutscher Feier- und Trauertag
Der 9. November in der deutschen Historie - es ist das Datum, das Deutschland mit der Weltgeschichte verbindet, im Guten und im Furchtbaren. Im Jahr 1989, auch an einem 9. November, fiel die Mauer in Berlin. Der 9. November ist das deutsche Schicksalsdatum, es verbindet die Höhen und die tiefsten Tiefen der deutschen Geschichte.