Vor knapp hundert Jahren veröffentlichte George W. Taylor seine legendäre Rocksaumtheorie, nach der bei einem wirtschaftlichen Aufschwung die Röcke kürzer werden und umgekehrt. Die These ist natürlich nicht ganz unumstritten, passt aber perfekt zu einem aktuellen Mode-Phänomen, das nebenbei endlich mal Gleichberechtigung in die Taylor'sche Lehre bringen würde. Die Rede ist vom sogenannten "Thigh Summer", dem Sommer des entblößten Oberschenkels - des männlichen wohlgemerkt. Denn die Hosensäume sitzen aktuell so hoch oben, dass sie gerade noch das Nötigste verdecken, pünktlich zur ebenfalls wieder hochfahrenden Wirtschaft. Zufälle gibt's.
Besonders anschaulich wurde das, als der "This is us"-Schauspieler Milo Ventimiglia im April nach dem Besuch eines Fitnessstudios fotografiert wurde. Er trug dabei sehr kurze Shorts, die eine ziemlich definierte Oberschenkelmuskulatur offenbarten, und löste damit einen Sturm der Verzückung aus. Auf Instagram und Twitter gestanden Frauen, sie könnten an nichts anderes mehr denken als an diese Oberschenkel. Der Guardian fantasierte, seine Keulen seien so rund und fleischig, dass man sie schön drei Stunden bei 180 Grad im Ofen durchgaren könne. Auf Tiktok wurde unter dem Hashtag "5 inseam" kurzerhand die Parole ausgerufen, Hosenbeine sollten grundsätzlich nicht mehr länger als fünf Zoll sein. Wer nachmessen möchte: Das sind rund 13 Zentimeter Schrittlänge, also nicht viel mehr als ein Brillenputztuch am Bein.
Der Sänger Harry Styles wurde gleich mehrfach mit Hosen in der neuen Länge beziehungsweise Kürze gesichtet, Paul Mescal aus der Serie "Normal People" ebenfalls, und wer jetzt beim Blick auf die eigenen, weniger definierten Schenkel hoffte, der Trend werde entsprechend nur sehr kurz anhalten, dem sei gesagt: Gerade zeigten Miuccia Prada und Raf Simons bei den Mailänder Männerschauen für Frühling 2022 untenrum quasi nichts anderes. Sehr kurze Shorts, hochgekrempelte Shorts, außerdem "Skorts", eine Mischung aus Minirock und Minihose. Ein dreifaches Hoch auf die Ungemütlichkeit.
Beinfrei, bauchfrei und da, wo's bedeckt bleibt, bitte auch noch schön eng anliegend - die Männermode war lange nicht mehr so sexy wie jetzt, egal, ob bei jüngeren Designern wie Ludovic de Saint Sernin und Jacquemus oder etablierten Häusern wie Fendi, Gucci, Prada. Das hat viel mit einem sich wandelnden Männerbild zu tun. Außerdem soll nach coronabedingter Freiheitsberaubung ja bald alles zügelloser und freizügiger werden.
Nach all den vielen Videokonferenzen haben die Beine endlich wieder Beachtung verdient
Aber bei den Short Shorts spielt vielleicht noch etwas anderes mit: Nach eineinhalb Jahren Videokonferenzen werden die zuletzt arg ausgeblendeten Körperpartien wieder an die Luft und ans Licht gezerrt. Natürlich nicht zuletzt, um überdeutlich zu machen, womit man den Lockdown sinnvoll verbracht hat: Joggen, Radfahren, Kniebeugen auf dem Balkon. Die englische Times legte sich bereits fest: "Legs are the new abs." Beine sind der neue Waschbrettbauch.
Das ist insofern interessant, als Männerbeine in der modischen Moderne nicht die beste Lobby haben. Schon Bermudas, die eine dicht behaarte Wade offenlegen, galten lange als Zumutung. Der Designer Tom Ford befand einmal, Männer sollten Shorts bitte nie in der Stadt tragen, erlaubt seien sie nur auf dem Tennisplatz oder am Strand. Tatsächlich sind berühmte Vorläufer aus den Achtzigern wie Tom Selleck alias Privatdetektiv Thomas Magnum oder John Travolta in dem Film "Perfect" in ihren sehr kurzen Hosen eher am Wasser oder im Fitnessstudio unterwegs gewesen.
Und so wie Michael Ballack einmal die Wade der Nation war, kann der Oberschenkel derselben nur einem gehören: Boris Becker. Schon wie sich die engen weißen Tennishosen über den Streckermuskeln des "Leimeners" spannten, war großer Sport. Auch bei Diego Maradona saßen die Fußballbuxen so knapp, dass gerade noch die "10" draufpasste. Dagegen laufen die aktuellen Fußballer komplett gegen den Trend, ihnen reicht der weite Schlabbersaum fast bis zu den Knien, wo sie oftmals auf die überweit hochgezogenen Stutzen treffen.
Im Grunde ist der Oberschenkel als neues Status-Körperteil nur die logische Fortsetzung eines vorherigen Trends: Die männliche Wade hat in den vergangenen Jahren eine ordentliche Karriere als Tattoo-Hotspot hingelegt, weswegen sie logischerweise häufiger entblößt wurde. Sänger Pharrell Williams erschien mit nackter Wade samt Tattoo vor einigen Jahren sogar zur Oscar-Verleihung. Da dieser Bereich nun weitgehend rehabilitiert (oder eben vollgekritzelt) ist, wird nun eben einfach der nächste in Angriff genommen.