Kleine Veränderungen können große, ungeahnte Folgen haben. Der Meteorologe Edward Lorenz veranschaulichte diesen Gedanken in einer berühmten Metapher: "Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann in Texas einen Orkan auslösen." Das schrieb Lorenz Anfang der 1970er-Jahre - und wurde so zum Begründer der Chaostheorie.
Der 1,95 Meter große argentinische Fußball-Nationaltorwart Emiliano Martínez hat mit einem Schmetterling wenig gemein, und doch lässt sich an seinem Beispiel zeigen, dass die Chaostheorie auch heutzutage nicht ausgedient hat. Martínez nämlich war es, der Mitte Dezember im Lusail-Stadion von Katar in der 123. Minute des WM-Finales seine linke Fußspitze ausfahren sollte, um einen Schuss des heranstürmenden Franzosen Randal Kolo Muani gerade so noch abzuwehren. Was Martínez da noch nicht wusste: Er sollte damit einen regelrechten Wirbelsturm in den Tattoostudios im rund 13 000 Kilometer entfernten Buenos Aires auslösen.
Hätte Martínez seine Fußspitze auch nur ein paar Zentimeter weiter rechts in die Luft gereckt, die Weltmeisterschaft wäre für Argentinien verloren gewesen. So aber brachte er die Mannschaft ins Elfmeterschießen, bescherte seinen Landsleuten schließlich den Titel - und den argentinischen Tätowierern ein Geschäft, das sie sich am Finalabend in diesem Ausmaß kaum träumen ließen. "So etwas Verrücktes habe ich noch nie erlebt", sagte die Tätowiererin Emily Lago kürzlich der Zeitung El Pais, sie besitzt ein Studio in Vicente López, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires. In den Tagen nach dem Finale habe sie eine Anfrage nach der anderen bekommen, berichtet Lago, und das habe bis heute nicht aufgehört. Bis Ende Februar sei sie ausgebucht.
Das Messi-Tattoo soll auf das linke Bein - weil er Linksfuß ist
Andere Tätowierer erzählen von Wartelisten von bis zu einem Jahr, und sie alle stechen auf einmal Fußball-Motive. Den WM-Pokal. Die Zahlenfolge 18-12-2022, für den Tag des Triumphs. Die Sol de Mayo, die Sonne, die auf der argentinischen Flagge abgebildet ist. Und, natürlich, das Konterfei von Lionel Messi, der die Mannschaft zum Titel führte. Die Kunden wollen es bevorzugt auf ihrem linken Bein verewigt sehen, so ist zu hören - weil Messi Linksfuß ist.
Weitere beliebte Motive: der Pokal, das Datum des Finalsiegs oder die drei Sterne für Argentiniens drei Weltmeistertitel.
(Foto: Natacha Pisarenko/AP)Die Argentinier sind wieder stolz auf ihre Nation, und das trotz aller Probleme. Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, die Inflation liegt bei 90 Prozent, vier von zehn Menschen leben inzwischen unter der Armutsgrenze. Die regierenden Peronisten um den unbeliebten Präsidenten Alberto Fernández sind heillos zerstritten.
Vor diesem Hintergrund kommt auch für den Staatschef der WM-Titel nicht ungelegen; die Verlegung des Turniers ans Jahresende könnte für Fernández sogar ein Segen gewesen sein. Denn der Dezember ist in Argentinien traditionell ein Protestmonat, unzählige Demonstrationen walzen sich normalerweise durch das Zentrum der Hauptstadt. In diesem Jahr hingegen fielen die Proteste weitgehend aus, weil das ganze Land stattdessen die Siege der Albiceleste feierte - und schließlich den Titel. Wer weiß, ob sich der Präsident am Ende vor lauter Erleichterung nicht auch noch ein Tattoo stechen lässt? Als Motiv böte sich an: Emiliano Martínez' Fußspitze.