Egling:Wie eine der weltgrößten Adventskalendersammlungen entstand

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Für die riesige Adventskalender-Sammlung Böhmkes reicht ein Album nicht aus. (Foto: Hartmut Pöstges)

Hinter Siegfried Böhmkes mehr als 3300 historischen Exemplaren steckt oft eine ganz eigene Geschichte. Sie sind so überraschend wie das, was sich hinter den Türchen verbirgt.

Von Claudia Koestler

Es ist dieses Kribbeln eines langersehnten Moments, wenn an diesem Tag das Türchen mit der Zahl "24" geöffnet werden darf. Bei den meisten Kindern - und zunehmend auch Erwachsenen - wird es heuer wohl bei diesem einen, weil letzten Adventskalendergeheimnis bleiben, das gelüftet wird. Nicht aber so bei Siegfried Böhmke. Der Eglinger könnte - zumindest theoretisch - noch ungefähr 3299 weitere Türchen mit der Zahl "24" öffnen, um den Höhepunkt der Weihnachtszeit auch wirklich auszukosten. Denn Böhmke sammelt Adventskalender. Keine Massenware wohlgemerkt, sondern historische Exemplare, von denen er inzwischen eben an die 3300 Stück sein Eigen nennt.

Damit besitzt der drahtige Mann mit dem markanten Gesicht und samtiger Stimme höchstwahrscheinlich eine der, wenn nicht sogar die weltgrößte Sammlung, dem Experten selbst sind überhaupt nur, drei, vier Sammler solcher Kalender bekannt. Doch mit jedem historischen Motiv, jeder unerwarteten Form, jeder kleinen Überraschung hinter einem Türchen und den jeweiligen Geschichten dahinter nehmen die kleinen Pappzeitzeugen ihre Betrachter mit auf eine spannende Reise, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert.

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Drei Leidenschaften hat der Eglinger Böhmke, der in München seit etwa 20 Jahren das Marionettentheater leitet, nach eigenem Bekunden: das Sammeln von altem Spielzeug, von alten Werbemitteln, und eben die Jagd nach Adventskalendern. "Schöne Dinge fürs Seelenleben" nennt er das, und der Drang, diese zu finden, ihnen ein neues Zuhause zu geben und zu bewahren, das ziehe sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Die Liebe zu Weihnachten hätten ihm seine Eltern mitgegeben, erzählt er: Das habe schon in der Vorweihnachtszeit begonnen, wenn sie mit ihm gebacken hätten, "und ich habe mich immer wahnsinnig gefreut, wenn mir meine Mutter einen Kalender geschenkt hat."

Dahinter versteckten sich auch nicht nur Bilder. Einmal hatte sie ihm Kekse auf einer Schnur aufgereiht, für jeden Dezembertag bis zum Fest einen. Überhaupt, seine Eltern hätten ihm immer ein wunderschönes, liebevolles und gemütliches Fest bereitet, ein gewisser Zauber habe da in der Luft gelegen. Und deshalb sind Adventskalender für Böhmke, der sein Alter lieber für sich behalten will, meist wertvolle Erinnerungen und Guckfenster in einen unbeschwerten, glücklichen Moment. Und manchmal sind sie eben auch Zeitzeugen. Vor etwa 20 Jahren begann er, sich für Adventskalender zu interessieren und erste Exemplare zusammenzutragen. "Ehrlich gesagt war ich immer schon ein Aufbewahrer, das liegt mir", sagt er. Vorwiegend über Auktionen findet Böhmke seine Sammelobjekte. Meist stammten die Exemplare aus Privathaushalten, manchmal auch aus Auflösungen von Lagerbeständen alter Geschäfte. Und manchmal schenkt ihm jemand eine solch lieb gewonnene Erinnerung aus den eigenen Kindertagen. "Die Leute wissen inzwischen, dass ich ihnen einen guten Platz biete und sie wertschätze." Meist aber sucht er über Auktionsangebote und dem Internet nach neuen Funden.

Fein säuberlich in Klarsichthüllen, mit beigelegten Beschreibungen und Datierung in Aktenordnern abgeheftet, so lagern die Adventskalender bei ihm - bis er einzelnen von ihnen wieder einmal eine Bühne bietet und Zuhause aufhängt.

Der gedruckte Adventskalender ist übrigens eine Erfindung, die von München aus ihren Siegeszug antrat. Einer der ersten Türchenkalender stammt vom Verlag Reichold und Lang, die gemeinhin als "Erfinder" des Adventskalenders gelten: Gerhard Lang war Buchhändler und Verleger.

Dies wird wohl nicht das einzige Türchen sein, dass Kalender-Sammler und Puppenspieler Siegfried Böhmke am Weihnachtstag öffnet. (Foto: Hartmut Pöstges)

Als Kind hatte ihm seine Mutter - ähnlich wie bei Böhmke - einen Kalender gebastelt, gefüllt mit Baisergebäck. Diese Erinnerung mündete 1904 in der Idee, einen vorweihnachtlichen Ausschneidekalender drucken zu lassen, und zwar in München in der lithografischen Anstalt Reichhold. "Im Lande des Christkindes" hieß das Druckwerk mit 24 kleinen, von Lang verfassten Gedichten und einem Bogen mit 24 passenden Bildchen, die ausgeschnitten und auf den Bogen geklebt werden sollten. "Der Erfolg war sofort da", sagt Böhmke. Bis Ende der 1930er Jahre wurden in dem Verlag an die 30 verschiedene Adventskalender in 40 Ausführungen aufgelegt. Manche hatten Scheiben zum Drehen, andere klassische Papplaschen oder es gab kleine Häuschen, die man befüllen konnte. Mit ein Grund für den Erfolg der Kalender-Erfindung war Böhmke zufolge die Möglichkeit, dass Firmen dort ihre Logos aufdrucken lassen konnten und als Gaben über den Ladentisch reichten.

Böhmkes ältestes Exemplar dürfte zwischen 1915 und 1920 entstanden sein. Es stammt aus dem Verlag Reichold und Lang und hat das Motiv "Christkindleins Haus" von der Zeichnerin Dora Baum. "Es waren damals sehr bekannte Illustratoren, die im Auftrag solche Bilder anfertigten", sagt Böhmke, zum Beispiel eben Baum, Else Wenz-Viëtor oder der Illustrator Friedrich Karl Baumgarten, heute noch für seine Zwergengeschichten und seinen "Zwergen-Stil" bekannt. Fast DIN- A4-groß ähnelt Böhmkes Exemplar aus festem Karton schon heutigen Kalendern und zeigt eine winterlich beschneite Häuserfront mit geschlossenen Fensterläden, die vom 6. Dezember bis zum 24. Dezember durchnummeriert sind. Diese lassen sich öffnen und zeigen dahinter Bildchen wie Engel oder Kutschen.

Andere Kalender in Böhmkes Sammlung hingegen verlassen den unbeschwerten, heiteren Pfad und stammen aus dem Dritten Reich. Die Kalender der NSDAP sind, anders als die Vorgänger, kleine Büchlein zum Umblättern, die wiederwendbar waren. Manche Seiten sind noch eher unpolitisch gestaltet, wenn auch im leichten Kommandoton: "Am 1. Dezember öffnet die Mutter den Kalender und hängt ihn auf. Jeden Abend wird dann eine weitere Seite umgeschlagen bis zum 24. Dezember. An den vier Vorweihnachtssonntagen wird die Weihnachtsgeschichte im Anhang vorgelesen", heißt es da zum Beispiel. Die Seiten hatten mal Noten und Lieder abgedruckt oder Tischsprüche, boten mal Informationen zu Flora und Fauna oder Bastelanleitungen für Weihnachtsbaumschmuck. Doch deutlich durchzog die Druckwerke auch die Ideologie der Nazis, etwa wenn die Motive für den Bastel-Baumschmuck von "Sonnenrädern" bis zum Hakenkreuz rangierten.

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Papiermangel nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und Konkurrenz zwangen Lang 1940, den Druck von Kalendern einzustellen. Doch die Idee hatte sich da bereits weit verbreitet. So sprang nicht nur die NSDAP auf. Auch manche Eltern wurden kreativ und malten oder bastelten ihren Kindern selbst Adventskalender, um ihnen in den harten Kriegsjahren etwas Freude zu bereiten. Besonders stolz ist Böhmke auf ein solches selbstgebasteltes Exemplar in Form einer Uhrenscheibe mit niedlichen Zeichnungen und einem verstellbaren Zeiger, der von Tag zu Tag etwas weiter vorgerückt werden konnte.

Große Popularität erreichten die Kalender dann wieder in den 1950er und 1960er Jahren. Die klassischen Türchen kamen wieder auf, andere Kalender hatten Figuren, die man jeden Tag ins Gesamtbild ziehen konnte, oder eine Uhr zum Drehen. Das funktionierte vom Prinzip her wie eine Parkscheibe. Die Hersteller nutzten mal niedliche Märchenszenen, mal winterliche Motive, aber eben auch wieder stärker christliche Symbole. Und die Kalender wurden zunehmend wertiger, etwa durch feines Glaspulver, das heute noch den Pappbogen glitzern lässt. Noch kreativer sind Böhmke zufolge Adventskalender aus der ehemaligen DDR, zumal man hier versuchte, allzu religiöse Motive zu vermeiden. Eine Rarität ist deshalb ein Exemplar, das dennoch eine "Adventskirche" zeigt, oder ein streng schwarz-weißer Kalender mit Wintermotiven von 1987 aus dem Oberlausitzer Kunstverlag.

Viele, aber nicht alle Kalender in Böhmkes Sammlung sind bereits "gelaufen", wurden also von irgendjemandem zu seiner Zeit geöffnet. Das aber ficht den Sammler nicht an, es ändere auch nichts am Wert, solange die Lasche noch da sei. "Es kommt immer auf das Motiv an", sagt er. Und so knibbelt er mit Daumen und Zeigefinger an einem Türchen, das schon mehrfach auf- und zugegangen ist, um sich vom dahinter liegenden Motiv erneut überraschen zu lassen.

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Seine anderen Sammelleidenschaften nehmen mehr Platz weg: Marionetten, Spielsachen und alte Werbemittel drängen sich in seinem Anwesen. Und mit ihnen sorgt er inzwischen für einen veritablen Schaufenstertourismus in Egling. Böhmke gestaltet nämlich in der Ortsmitte regelmäßig zwei Schaufenster mit alten Werbemitteln und Waren. Jahrelang waren die Rollos des alten Kramerladens im Ort heruntergelassen, der Laden aufgegeben. Doch nun sind sie wieder offen und bieten mit Böhmkes Exponaten einen nostalgischen An- und Einblick in längst vergangene Tage. Emailschilder, Kannen, Figuren früherer Firmen und Marken werben da für Waren, die Ältere noch aus ihrer Jugend kennen und Junge heute staunen lassen. Miniaturwelten, so stimmig wie liebevoll arrangiert, die das Auge auf Entdeckungsreise gehen lassen und für die sich inzwischen Neugierige aus dem gesamten Oberland die Nasen platt drücken.

Wenn Böhmke erzählt, lüftet er - ähnlich seinen Adventskalendern - immer noch ein Türchen und Geheimnis seines faszinierenden Lebens. So absolvierte er zum Beispiel eine Ausbildung in London bei Jim Henson, dem Erfinder der Muppet Show. Böhmke wurde daraufhin zum gefragtesten Puppendarsteller im deutschen Fernsehen, arbeitete unter anderem fedeführend für die Fernsehserie "Die Fraggles" und in der Kult-Kinderserie Bim Bam Bino. Folglich nimmt es nicht wunder, dass über die Schätze in seinem Zuhause Kermit der Frosch genauso wacht wie Dutzende Charakterköpfe an Fäden.

Heute engagiert sich der Eglinger Intendant des Münchner Marionettentheaters beruflich wie privat leidenschaftlich für Geschichten und eben schöne, alte Dinge, um sie der Nachwelt zu erhalten. Ab und an erliege er zwar auch mal der Versuchung, einen modernen Adventskalender zu kaufen. Doch was heute feilgeboten werde, ist meist nicht sein Fall: zu sehr Massenware, zu wenig liebevoll gestaltet, mehr Geschenk und PR-Artikel denn Zauber der Weihnacht. Das sei dann eher was für junge Fans von Neymar, Ronaldo oder Popstars, von Kosmetikunternehmen oder Süßwarenherstellern. Aber Böhmke sammelt nicht alleine um des Sammelns Willen. Er möchte bewahren und zeigen. Weil aber Sammlungen gerade von Adventskalenders so rar sind, wurde er bereits bundesweit für Ausstellungen angefragt. Und im kommenden Jahr, so hofft er, wird in seinem Heimatort Egling ebenfalls eine Schau ausgewählte Kalender zeigen. Der Bürgermeister jedenfalls habe schon angeklopft.

Weil Weihnachten auch die Zeit der Wünsche ist, gewährt Böhmke Einblick in seine innigste Herzensangelegenheit: einen kleinen Bauernhof zu finden, in dem er ein Museum aufbauen kann. "Denn die schönen Dinge, sie werden immer mehr zur Raritäten, und mir ist es ein Ansporn, sie der Nachwelt zu erhalten."

Nun aber muss sich Böhmke erst einmal entscheiden, welches der vielen verlockenden Türchen er an diesem 24. Dezember öffnen will. Die Auswahl ist natürlich riesig, aber wenn es ihn in den Fingern juckt, dann beschränkt er sich nicht auf diesen einen Tag, um Freude zu haben und Entdeckungen hinter der Pappe zu machen: "Bei mir ist Weihnachten manchmal auch im Sommer", sagt er, lacht und lässt seinen Blick über die vielen glitzernden bunten Blätter schweifen.

© SZ vom 24.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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