Artenschutz und Bioakustik:"Den Vögeln zuhören"

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Das Rotkehlchen trägt perlende Strophen zum "Dawn Chorus" bei. (Foto: Wolfgang Forstmeier/Dawn Chorus/oh)

Seit vier Jahren sammeln Menschen in aller Welt Aufnahmen für das Projekt "Dawn Chorus". Michael John Gorman weiß, welche Bedeutung diese Gesänge in einer Zeit des Massenaussterbens haben.

Interview von Stephanie Schwaderer, Bad Heilbrunn/München

Wer in diesen Tagen früh aufsteht und vor die Tür tritt, wird mit einem besonderen Konzert belohnt: Niemals sonst hört man die Vögel kräftiger und melodischer singen als zur Brutzeit zwischen Dämmerung und Sonnenaufgang. Diesem "Dawn Chorus" ist seit vier Jahren ein gleichnamiges internationales "Citizen Science und Kunst-Projekt" auf der Spur. Angestoßen wurde es von der Stiftung Kunst und Natur in Nantesbuch und dem Biotopia Lab, einer Interimsplattform bis zur Eröffnung des neuen Naturkundemuseums Bayern. Beim Frühlingsfest der Stiftung am Samstag, 20. April, wird sich alles um die Welt der Vögel drehen. Die SZ sprach vorab mit Michael John Gorman, dem Gründungsdirektor von Biotopia.

SZ: Herr Gorman, welchem Vogel hören Sie am liebsten zu?

Michael John Gorman: Dem Pirol, er ist für mich der Top-Sänger. In Bayern hört man ihn nur selten. Er klingt wie eine Querflöte, eine ganz besondere Qualität. Auf der Webseite von Dawn Chorus kann man einige schöne Aufnahmen nachhören, etwa aus Weilheim oder Freising.

Sie leben in der Gemeinde Berg am Starnberger See. Wenn Sie am Morgen Ihr Fenster öffnen, wer singt im Dawn Chorus?

Die großen Stimmen sind die Amseln, Rotkehlchen und Blaumeisen, der Zilpzalp macht den Rhythmus, dazu kommen der Kleiber und kleine Singvögel wie die Mönchsgrasmücke.

Wie viele Stimmen können Sie ohne App unterscheiden?

Um die zwölf, würde ich sagen. Ich bin kein Vogelexperte, sondern arbeite eng mit Leuten vom Landesbund für Vogelschutz und vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz zusammen, wirklichen Vogel-Profis.

Michael John Gorman ist Gründungsdirektor von Biotopia und leitet den Lehrstuhl "Life Sciences in Society" an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Juli verlässt der studierte Physiker und Philosoph Deutschland und wechselt an das Massachusetts Institute of Technology. (Foto: Andreas Heddergott)
Sein Lieblingssänger ist der Pirol. (Foto: imago images/blickwinkel)
Der Gesang des Blaukehlchens erinnert an eine Nachtigall. (Foto: Wolfgang Forstmeier / Dawn Chorus/oh)

Überall auf der Welt ist ein drastisches Artensterben im Gange. Was können uns die Vögel vor unserer Haustüre sagen?

Ein gesundes Öko-System kann man mit den Ohren erkennen. Das wissen wir von Bernie Krause, einem amerikanischen Klangforscher und Experten für Tonlandschaften. Er hat 2019 in Kooperation mit Biotopia und der Stiftung Kunst und Natur eine Meisterklasse in Nantesbuch gegeben und damit auch unser Projekt inspiriert. Vogelstimmen, aber auch die Geräusche von Fröschen oder Insekten, sind ein Indikator für die Präsenz von anderen Tier- oder Pflanzenarten und lassen Rückschlüsse auf den Zustand eines Öko-Systems zu. Beeindruckend lässt sich das verfolgen, wenn ein Gebiet teilweise abgeholzt wird - dann bricht der Vogelgesang ein. Wir befinden uns in einer Zeit des Massenaussterbens. Eine entscheidende Ursache dafür ist der Habitatsverlust. Das Schöne ist, dass wir über die Vogelstimmen eine Verbindung der Leute mit ihrem lokalen Habitat schaffen. Wenn man den Vögeln zuhört und ihre Stimmen über die Jahre aufnimmt, kann man Veränderungen sehen - auch positive, wenn es etwa Renaturierungen gegeben hat. Dann tauchen plötzlich neue Stimmen im Chor auf. Jeder kann nach draußen gehen und ihren Gesang aufnehmen. Am besten morgens vor Sonnenaufgang, da bekommt man die besten Aufnahmen ...

... und ein beglückendes Gratis-Konzert.

Ja, dazu läuft gerade ein Projekt an der TU München, an dem wir beteiligt sind. Es geht um die Frage, wie Naturgeräusche die mentale Gesundheit beeinflussen.

Das Projekt Dawn Chorus entstand in einer Zeit, als die Covid-Pandemie eine außergewöhnliche Stille übers Land gelegt hat. Was hat sie bewirkt?

Das war im März 2020 beim ersten Lockdown. Hinter uns lag die Erfahrung mit Bernie Krause, und plötzlich waren die Straßen und der Himmel leer, keine Autos, keine Flugzeuge. Plötzlich konnte man die Vogelstimmen viel deutlicher hören. Viele Leute haben in dieser Zeit eine neue Präsenz der Natur wahrgenommen und davon berichtet. Das hat uns inspiriert. Innerhalb von drei Wochen haben wir eine Web-Plattform entwickelt und bekamen sofort viele Rückmeldungen. Der Kulturstiftung des Bundes gefiel die Idee, auf diese Weise Kunst und Wissenschaft zusammenzubringen. Wir bekamen eine Förderung und konnten damit die Dawn Chorus-App entwickeln. Die standardisierten Aufnahmen werden mittlerweile weltweit kartiert und in eine Datenbank zur Biodiversitätsforschung eingespeist.

2019 leitete Bernie Krause (rechts) bei der Stiftung Kunst und Natur eine interdisziplinäre Meisterklasse zum Thema "Soundscapes". (Foto: Thomas Dashuber/Stiftung Kunst und Natur/oh)
"Soundscapes", also Klanglandschaften, lassen sich auch künstlerisch auswerten. Hier ein Ausschnitt aus "Sonic Feather" von Mika Johnson und Marcel Karnapke. (Foto: Mika Johnson & Marcel Karnapke/Dawn Chorus/oh)

Wie viele Leute haben sich bislang beteiligt?

Derzeit sind wir bei 40 000 Tonaufnahmen aus 99 Ländern - von Costa Rica bis Japan. Der Schwerpunkt, das lässt sich auf unserer Soundkarte gut erkennen, liegt in Deutschland.

Hält das Interesse an?

Es ist über die Jahre gewachsen. Obwohl es ja eine Hürde gibt: Man muss wirklich früh aufstehen. Unsere wichtigste Sammelzeit ist im Mai, da geht die Sonne schon gegen fünf Uhr auf. Seit 2022 haben wir mit dem Landesbund für Vogelschutz einen starken Partner bekommen. Die Mitglieder sind sehr aktiv, sammeln fleißig und nehmen über die Jahre auch immer wieder am gleichen Standort auf, was für die wissenschaftliche Auswertung wichtig ist.

Die App ist so angelegt, dass man eine Minute lang den Vogelgesang aufnimmt und ihn dann hochlädt, aber die Stimmen werden nicht entschlüsselt. Wäre das nicht ein Anreiz?

Eben das ist neu in diesem Jahr. Mit Unterstützung von Stefan Kahl vom Cornell Lab of Ornithology haben wir heuer erstmals Künstliche Intelligenz in die App integriert. Es ist immer noch ein komplexes Problem, 15 gleichzeitig singende Vogelarten zu identifizieren. Menschen sind da immer noch ein bisschen besser als die KI. Aber so bekommen Nicht-Vogelprofis zumindest einen Hinweis, welche Vogelarten wahrscheinlich gerade präsent sind.

So wie bei der Vogelstimmen-App Merlin?

Genau. Merlin wurde ebenfalls vom Cornell Lab of Ornithology entwickelt, eine sehr schöne App. Wir arbeiten mit BirdNet, einem Open-Source-Algorithmus. Die Apps sind zuverlässig, wenn nur drei oder vier Vögel singen. Sind es 15, bekommt die KI Probleme, liefert aber Vorschläge. Man weiß dann zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit, dass gerade die Amsel und der Buchfink singen. Das ist auch wichtig für ein Bildungsprojekt, das wir an bayerischen Schulen vorantreiben wollen. Im Vorjahr haben wir bereits alle Schulen angeschrieben und zur Teilnahme aufgerufen. Heuer werden wir noch weitere Module entwickeln.

Die kostenlose Dawn Chorus-App ist leicht zu bedienen ... (Foto: Dawn Chorus/oh)
... der Auftrag klar. (Foto: Dawn Chorus/oh)

Welche Rolle spielt die KI bei der wissenschaftlichen Auswertung?

Sie macht Vorschläge, ist aber nicht perfekt. Umgekehrt haben wir nicht die Möglichkeit, 40 000 Aufnahmen von Menschen auswerten zu lassen. In Zweifelsfällen oder bei seltenen Vogelstimmen werden Experten der Dawn Chorus Community dazugezogen. Die KI entwickelt sich, ihre Bedeutung wird bald enorm steigen. Mit dem Globalen Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal wird der Fokus weltweit auf die Artenvielfalt gerichtet und damit auf die Frage, wie man sie bestimmen kann. Die Bioakustik wird dabei eine ganz wichtige Rolle spielen. Das Schöne beim Artenschutz ist, dass oft schon kleine Veränderungen auf lokaler Ebene eine messbare Wirkung zeigen. Man muss nur den Rasen eine Weile nicht mähen, schon summt und brummt es in der Wiese. Und das wiederum gefällt den Vögeln.

Die Stille der Corona-Pandemie ist vorbei. Der Lärm ist zurück. Wirkt sich das auf den Vogelgesang aus?

Bei Vögeln gibt es die Acoustic Niche Hypothesis. Sie besagt, dass Vögel versuchen, mit ihrem Gesang eine eigene Nische zu besetzen. Rückt ein anderer Ton nahe an ihre Frequenz heran, können sie ihre Stimme ein bisschen ändern. Der meiste menschengemachte Lärm hat eine viel niedrigere Frequenz als Vogelstimmen. Er hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen, wie wir auf unseren Aufnahmen verfolgen können.

Stört dieser Lärm einen singenden Zaunkönig?

Das ist schwer zu sagen. Vermutlich stört es ihn weniger als der Gesang eines Konkurrenten, der ihm sein Revier streitig macht.

Dawn Chorus versteht sich auch als Kunstprojekt. Was tut sich auf diesem Gebiet?

Gerade heute habe ich wieder Musik von dem international bekannten Münchner Künstlerduo Stephanie Müller und Klaus Erika Dietl gehört, die sich Alligator Gozaimasu nennen und mit Vogelstimmen von Dawn Chorus gearbeitet haben. Für uns ist das wichtig, weil wir nicht nur Vogel-Experten erreichen wollen. Musik ist ein wichtiges Instrument, um neue Menschen für die Stimmen der Natur zu interessieren.

Wird der Dawn Chorus in Biotopia einen Raum bekommen?

Wir hatten schon einige Events im Biotopia-Lab, die auf große Resonanz gestoßen sind. Die weitere Museumsplanung wird aber noch einige Jahre dauern und liegt nicht mehr in meinen Händen. Im Juli verlasse ich Deutschland und wechsle an das Massachusetts Institute of Technology. Die Entwicklung des Naturkundemuseums Bayern werde ich dann nur noch aus der Ferne verfolgen. Ich fände es sehr interessant, die Naturakustik zu integrieren. Was man durch die Ohren erfährt, hat eine tiefe emotionale Wirkung auf viele Menschen. Das ist viel wirkungsvoller als jeder wissenschaftliche Text zur Biodiversität.

Informationen zu Dawn Chorus unter explore.dawn-chorus.org

Frühlingsfest der Stiftung Kunst und Natur, Samstag, 20. April, 12 bis 18 Uhr, Gut Karpfsee, Bad Heilbrunn, Eintritt frei; mit Musik, Theater, Kunst, Literatur, großem Mitmachprogramm und einem Podium zum Thema Künstliche Intelligenz in der Vogelerkennung, Informationen unter kunst-und-natur.de

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