SZ-Adventskalender:Der Krieg hat das alles zunichte gemacht

Lesezeit: 4 min

Svitlana K. mit Tochter Olha und Sohn Aleksander im Sozialbürgerhaus. (Foto: Robert Haas)

Svitlana K. ist mit ihren beiden Kindern aus der Ukraine nach München geflohen. Ihr altes Leben und ihren Mann musste sie dort zurücklassen.

Von Berthold Neff

Sie haben ihre Leben gerettet, das schon. Aber so vieles, fast alles haben sie verloren. Das Glück ihrer kleinen Familie ist untergegangen in den Explosionen der russischen Drohnen, Marschflugkörper und Granaten. Wenn Svitlana K. davon erzählen soll, wie sich ihr Leben in der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer so grundlegend verändert hat am 24. Februar 2022, als Putins Armee die Ukraine überfiel, kann sie die Tränen kaum zurückhalten.

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Vor fast zwei Jahren hat dieser Albtraum für sie, ihren Mann Nikolai und Olha und Aleksander, die beiden Kinder, begonnen. Es fühlt sich für sie aber so an, als ob das erst gestern passiert wäre. Sie erzählt, wie entsetzt sie war, als sich ihr Mann, 34 Jahre alt und Berufssoldat, am Tag nach dem Beginn der russischen Invasion zum Dienst meldete. Am 26. Februar, an ihrem 39. Geburtstag, war er schon weg, um sich als Scharfschütze der feindlichen Armee in den Weg zu stellen. "Er ist so mutig", sagt Svitlana K, "er ist ein Patriot". Sie weiß, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als für die Heimat zu kämpfen. Und trotzdem fällt es ihr schwer, dies zu akzeptieren. Wie wichtig wäre seine Hilfe zu Hause gewesen, bei der Betreuung der kleinen Olha, deren Entwicklung wegen Trisomie 21 so schwierig verläuft, die sich jeden noch so kleinen Erfolg Tag für Tag erkämpfen muss.

Als Nikolai das erste Mal verwundet wurde, war die Familie schon aus der Heimat geflüchtet. Ab und zu sprach sie am Telefon mit ihm. Und sie wusste, wenn es ihm wieder besser geht, kehrt er an die Front zurück. In den wenigen Anrufen, die ihnen vergönnt waren, berichtete er Schreckliches. Zuletzt, bevor eine russische Bombe alle Soldaten des von ihm befehligten Zugs tötete und ihn, schwer verwundet, verschüttete, war er in Cherson im Einsatz. Das ist gar nicht so weit von Odessa entfernt, wo sie trotz aller Widrigkeiten ein gutes, ein schönes Leben hatten, in ihrer kleinen Mietwohnung, wo Svitlana ihrer Arbeit als Köchin und Konditorin nachging. Wo sie so gerne am Meer saßen, um den Wellen zuzuhören. Wo sich aus der Ferne die Schiffe dem Hafen näherten, ohne Torpedos mit sich zu führen. Der Krieg hat das alles zunichtegemacht.

Schon in der ersten Kriegsnacht fielen Bomben auf Odessa. Svitlana war damals bei ihren Eltern in Reni zu Besuch, einem kleinen Ort am Unterlauf der Donau, im Dreiländereck zwischen der Ukraine, der Moldau und Rumänien. Svitlana beschloss, die etwa 200 Kilometer lange Fahrt bis nach Odessa auf sich zu nehmen, um ihrer Schwester beizustehen, die dort mit ihrem Kind allein war. Ein endlos erscheinender Flüchtlingstreck kam ihr auf dieser Fahrt entgegen, aber sie schaffte es in die Stadt, die schon damals vom Krieg gezeichnet war.

Dann ging es für die beiden Schwestern wieder zurück Richtung Westen, zu Fuß erreichten sie Giurgulesti, den Grenzort zwischen der Ukraine, der Moldau und Rumänien. Svitlana schleppte Olha, ihr damals 16-jähriger Sohn Aleksander trug ihr gesamtes Hab und Gut, es passte in eine Reisetasche. Auch er ließ seine Zukunft zurück, im Mai, so der Plan, wollte er sich der Aufnahmeprüfung an der Universität stellen, um Ingenieur zu werden.

Dann saßen sie in einem Bus, der sie bis in die rumänische Hauptstadt Bukarest brachte, von dort ging es mit dem Zug nach München. Für die kleine Olha war das eine schwere Zeit, so viele Eindrücke, so viele Menschen, so viele Geräusche, die so neu und ungewohnt sind, dass sie einem Angst machen. Am 9. März kam die kleine Familie in München an, und da der Corona-Test bei Svitlana positiv war, standen die beiden Kinder ein paar Tage ohne die Mutter in der Fremde da, zum Glück kümmerte sich die Tante um sie.

"Mein Herz und meine Seele schmerzen, wir hoffen, dass dieser Krieg ein Ende findet."

Und dann war es ein Münchner Feuerwehrmann, der die kleine Familie für die ersten zwei Monate in seiner Familie aufnahm. Svitlana faltet ihre Hände, während sie davon erzählt, und sagt: "Ich bin diesen Menschen so dankbar, ich danke München und ich danke Deutschland." Derzeit leben sie in einer städtischen, sozial betreuten Wohnung in Ramersdorf, hoffen auf eine Sozialwohnung, vielleicht sogar im selben Viertel. Denn Olha geht zur Schule, in die erste Klasse einer Förderschule an der Haager Straße im Werksviertel. Aleksander macht derzeit einen Deutschkurs und hofft, die Sprache bald so gut zu beherrschen, dass er eine Ausbildung beginnen kann.

Am liebsten aber würde er zurück in die Ukraine fahren, und hielte ihn seine Mutter nicht zurück, würde er es wohl tatsächlich versuchen. Und das, obwohl er weiß, dass er dann zur Armee eingezogen wird und im schlimmsten Fall dasselbe Schicksal erleidet wie sein Vater. Svitlana hat mit eigenen Augen gesehen, was der Krieg aus ihrem Nikolai gemacht hat, wie er nachts schreiend aufwacht und tagsüber keine Ruhe findet. Sie hat es gewagt, mit Olha nach Reni zu fahren, hat Nikolai im Krankenhaus besucht. "Er ist ein anderer Mensch geworden", sagt Svitlana und schafft es nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten.

Es ist auch für die kleine Olha eine schwere Zeit, denn ihr kleiner Kinder-Kosmos gerät schon bei der kleinsten Veränderung durcheinander. Sie ist ein freundliches Kind, bei dem Treffen im Sozialbürgerhaus, wo sich die Betreuerin Sylwia Malek vorbildhaft um die Familie kümmert, wechselt sie plötzlich völlig arglos auf den Schoß des Fremden, der mit ihrer Mutter redet. Danach rennt sie durchs Zimmer, öffnet die Tür und ist so schnell draußen, dass sich Aleksander sputen muss, um sie einzuholen.

Was die Zukunft wohl bringt? Svitlana zuckt mit den Schultern, wer weiß das schon. Sie weiß nur, was sie sich erhofft. "Mein Herz und meine Seele schmerzen, wir hoffen, dass dieser Krieg ein Ende findet." Dann könnte es vielleicht ein neues Leben geben für sie, für Nikolai, für Olha und Aleksander. Bis dahin aber heißt es, Kraft schöpfen, damit genug Energie da ist, um Olha beizustehen. Svitlana wünscht sich, einen Deutschkurs zu besuchen, damit sie Olha bei den Schulaufgaben helfen kann. Und vielleicht gelingt es ihnen, in einem kurzen Urlaub aufzuatmen, in einem Land am Meer, in dem keine Bomben fallen - das wäre ihr Traum.

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