Typisch deutsch:Der Preis der Freiheit

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Eine Erfahrung hat unsere Autorin während ihrer Krankheit gemacht: Deutschland lehrt einen, dass man sich bisweilen auf sich selbst zu verlassen hat. (Foto: imago images/Bihlmayerfotografie)

Einst wünschte sich unsere Autorin weit weg von ihrer nörgelnden Großfamilie. Nun hat sie Corona erwischt und sie hätte ihre 30 verrückten Verwandten gerne bei sich in München.

Kolumne von Lillian Ikulumet

Verwandte sagen oder machen manchmal die lustigsten Dinge - und dann wiederum möchte man stöhnen oder vor Schreck zusammenzucken. Sie bringen einen zum Weinen und zum Lachen. Wir wissen, warum wir unsere Verwandtschaft lieben. Mit gewissen Einschränkungen.

Ich bin in einer großen Familie mit fast 30 Mitgliedern aufgewachsen. Wer mal 60 Sekunden für sich haben wollte, fand diese Ruhe ausschließlich auf dem Frauenklo. Als Kind wünschte ich mir nichts sehnlicher, als erwachsen zu werden, einen Job zu bekommen und in die Großstadt zu ziehen, um alleine leben zu können. Als es soweit war, lebte ich zwar in so einer Großstadt. Doch die Großfamilie ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Wöchentlich, bisweilen täglich, kamen Verwandte zu Besuch. Selbstverständlich ohne vorher zu fragen, ob es gerade passt. Manche blieben Wochen. Einige kamen mit ihren Kindern. Es gab Momente, in denen ich wünschte, ich wäre weit weit weg.

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Manche Wünsche gingen in Erfüllung, wenn auch ganz anders als erhofft. Die Flucht vor meinen Verfolgern führte mich von Uganda ins Weit-weit-weg-Land Bayern. Da war nun niemand mehr, den ich aus meiner Kindheit kannte. Niemand, der meine Hobbys oder meine Fluchtgründe kannte. Es war zwar anstrengend, ständig erklären zu müssen, wer man ist und woher man kommt. Es hatte aber auch was. Warum arbeitest du als Journalistin und nicht als Advokatin? Warum spielst du Rugby und nicht Tennis? Solche Fragen musste ich nun nicht mehr beantworten. Ich genoss das Alleinsein in München. So musste sich Freiheit anfühlen.

Doch jede Freiheit hat ihren Preis. Zum Beispiel, wenn man krank wird. Corona hatte nun auch mich erwischt. In Uganda wäre jemand bei mir gewesen, sei es noch so unvernünftig gewesen angesichts des Virus. Die Nachbarn eines größeren Münchner Mietshauses hingegen schauen nicht nach einem, ob alles in Ordnung ist, nur weil man ein paar Tage oder Wochen nicht draußen zu sehen war.

Die Krankheit nahm mich arg mit. Ich wünschte mir so sehr, dass meine Verwandten um mich herum wuselten, dass Kinder auf mir herumtrampelten und laut plärrend durch den Gang liefen. Jemanden, der mir eine Tasse heißen afrikanischen Brei kochen oder sogar ein Glas Wasser reichen würde. Der mich immer wieder fragte, ob es mir an etwas fehle. Mir wurde klar, dass ich meine 30 verrückten, nörgelnden, liebevollen Verwandten vermisste.

In solchen Momenten kommt nicht selten meine 31. Verwandte zur Tür hereingehopst: Meine vierjährige Tochter Taliah, die recht ansteckend sein kann. Auch aus viraler Sicht. Sie tollte in diesen Wochen trotz Infektion munter durch die Wohnung. Ich kann nicht sagen, wie oft sie mit ihrem Spielzeug-Arztköfferchen ins Schlafzimmer spaziert ist, um mir Injektionen zu verabreichen - auch wenn in der Plastikspritze nur Wasser war. Sie forderte mich auf, aufzustehen und mit in ihre Spielzeugküche zu kommen. Natürlich musste ich überzeugend kauen, weil sie dort etwas für mich "zubereitet" hatte. Pommes aus Plastik. Vielleicht war das von allem die beste Medizin.

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