Typisch deutsch:Wo bleiben Taliahs Geschwister?

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Warten auf die Großfamilie: In Uganda werden Kinder für die Gemeinschaft geboren. (Foto: Catherina Hess)

Unsere Autorin bekommt immer wieder Anrufe von ihrer Großmutter aus Uganda, wann sie denn ihre nächsten Kinder zur Welt bringe. Über Gespräche zwischen zwei Welten.

Kolumne von Lillian Ikulumet

Am Dienstag habe ich für meine kleine Taliah und mich zum Abendessen Rühreier und Bananen gebraten. Da rief meine Großmutter an, die in Uganda lebt, im selben Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Als sie anfing, über die Zeit von damals zu sprechen, wurde ihre Stimme weicher. Es war, als könnte ich sie durchs Telefon lächeln hören.

Es ist eine romantische Vorstellung: ein Haus, ein Garten, niedliche Kinder großziehen. Und irgendwann die Enkel. Für meine Großmutter waren das die wichtigsten Jahrzehnte im Leben. In München hingegen muss man nicht lange suchen, um Andersdenkende zu finden. Manche sagen es ganz offen, auch Frauen: "Ich will keine Kinder haben."

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Es gibt hier viele Menschen, die das Standard-Familien-Narrativ ablehnen und davon überzeugt sind, dass es der richtige Weg ist, keine Kinder zu haben. Warum ist es hier so anders?

Meine Großmutter stammt aus einer Großfamilie und gründete schließlich selbst eine - für Uganda normal große - Familie. Sie brachte neun Kinder zur Welt, zwei von ihnen starben bei der Geburt. Ihr Mann, mein Opa, verließ die Familie früh. Und doch gelang es der Oma, meine Mutter und ihre sechs Geschwister großzuziehen. Sie war alleinerziehend, würde man in München sagen, doch eigentlich war sie das nicht.

Der Unterschied ist, dass in Teilen Afrikas, auch in Uganda, Kinder für die Gemeinschaft geboren werden. Die vielen Verwandten in der Umgebung helfen wie selbstverständlich bei der Betreuung und Erziehung. Nicht zuletzt auch, weil Kinder eine Absicherung sind. Sie kümmern sich um ihre Eltern, wenn Sie alt und müde sind. Daher sind Sätze wie "Ich will keine Kinder haben" dort praktisch undenkbar.

Bevor ich zum ersten Mal Mama wurde, rief meine Oma immer wieder an und fragte, wann ich endlich gedenke, ihr ein Urenkelkind zu schenken. Und seit ich Taliah vor vier Jahren zur Welt gebracht habe, fragt sie stets nach, wann denn mit Taliahs Geschwistern Nummer eins bis mindestens vier zu rechnen sei.

Es ist nicht so einfach, einer mehr als 80 Jahre alten Uganderin zu erklären, warum Taliah noch keine Geschwister hat. Die Gründe sind vielfältig und wie so oft im Leben nicht immer eindeutig.

Die meisten Frauen hier wollen arbeiten, um unabhängig zu sein. Ich selbst bin da nicht anders. Da bleibt einem jedoch weniger Zeit für die Familie. Hinzu kommt, dass viele Münchnerinnen und Münchner Zeit nur für sich selbst in Anspruch nehmen: fürs Fitnessstudio, Kino oder zum Fußballschauen.

In München fällt auf, dass die Menschen sich stark auf das staatliche Rentensystem verlassen - oder auf eigene Ersparnisse. Kinder spielen in diesen Überlegungen meiner Wahrnehmung nach weniger eine Rolle. Und genau hier liegt vielleicht der Knackpunkt: Ohne die Geburt von Kindern dürfte es schon bald immer weniger Menschen geben, die diese Renten bezahlen. Und dann?

Das Gespräch mit meiner Oma endete damit, dass ich mir offen ließ, ob und wie viele Geschwister meine Taliah noch bekommt. Ich weiß nicht genau, ob sie mich wirklich versteht: Ich habe hier keine Großfamilie wie einst Oma. So geht es den meisten jungen Münchner Familien, die ich kenne. Von Freunden und Nachbarn kann man hier nicht erwarten, dass sie einem regelmäßig helfen. Weil sie selbst Kinder haben, Arbeit, Haushalt. Und dann noch Kino, Champions-League und Fitnessstudio. Wobei ich in meinem Fall sagen kann, dass ich gut ohne Fußball und Fitness auskomme. Als ich ihr das erzählte, lächelte meine Oma wieder durchs Telefon.

Ihre Flucht hat drei Journalistinnen und Journalisten nach München geführt. In der wöchentlichen Kolumne "Typisch deutsch" schreiben sie, welche Eigenarten der neuen Heimat sie mittlerweile übernommen haben.

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