Projekt "Giasing International":Sechzger bieten Geflüchteten ein Podium - und ein Zuhause

Lesezeit: 3 min

Mohamad Awata (Dritter von links) hat eine gefährliche Flucht über das Mittelmeer hinter sich. Ali Cukur (links) ist Leiter der Box-Abteilung, Ahmadulla Nawin (am Mikrofon) spielt bei 1860 Freizeit-Fußball. Rechts: Moderator Peter Kveton. (Foto: Stephan Rumpf)

Der TSV 1860 ist eine besonders gute Heimat für besonders viele Migranten. Das versichern die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion in Giesing. Ein Abend über Todesangst auf Flüchtlingsbooten und die Frage, warum die Löwen besonders integrativ sind.

Von Gerhard Fischer, München

Mohamad Awata hebt den Zeigefinger der rechten Hand und schaut ihn an. Es sei Mitternacht gewesen, sagt er, man habe keine Lichter anmachen dürfen - er habe deshalb seinen erhobenen Finger nicht erkennen können. Awata sah nur ein rotes Licht in der Ferne, in Griechenland. Er war - mit 75 anderen Menschen - auf einem zehn Meter langen und zwei Meter breiten Flüchtlingsboot unterwegs. Sieben Boote fuhren in dieser Nacht von der Türkei nach Griechenland, vier sanken und rissen die Menschen in den Tod. Awata schaffte es, aber er würde es nicht mehr machen. "Ich hatte nie in meinem Leben mehr Angst", sagt er, "auch nicht im Krieg in Syrien."

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Mohamad Awata, den bei 1860 alle "Mo" nennen, sitzt auf einem Stuhl in der Lutherkirche. Es sind gerade die sogenannten Migrationstage in Giesing, und die Abteilung Vereinsgeschichte hat am Donnerstag um 19 Uhr (die Löwen sagen: um 18.60 Uhr) zu einer Podiumsdiskussion geladen, die "Bewegte Biographien im TSV München von 1860" heißt. Es sitzen etwa 40 Zuhörer in der Kirche, und droben, auf dem Podium, sind es sieben: Awata, der 2016 nach Deutschland kam und dann eine Saison für 1860 spielte; Saskia Bajin, Boxerin und Boxtrainerin, deren Vater aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt; René Gomis, früher Nationalspieler im Senegal und heute Trainer der Fußball-Senioren bei 1860; Ahmadulla Nawin aus Afghanistan, der bei den Senioren von Gomis spielt; Ali Cukur, Abteilungsleiter Boxen; und Viola Oberländer von der Geschäftsstelle des TSV 1860.

Peter Kveton vom Bayerischen Rundfunk, nach eigenen Angaben "bekennender Löwe", moderiert. Er ist Journalist und er formuliert gleich mal die Überschrift für diese Veranstaltung: "Sportliche Heimat. Kann sie die echte Heimat ersetzen?" Die zweite Frage stellt er nicht, aber sie zieht sich wie ein blauer Faden durch den Abend: Ist 1860 eine besonders gute Heimat für besonders viele Migranten?

Oberländer sagt, bei den 50 Sportarten der Löwen sei der Migranten-Anteil "sehr hoch, höher als bei anderen Vereinen". Kveton: "Wie hoch?" Oberländer: "Wir notieren keine Nationalitäten bei unseren Mitgliedern, wir haben auch keine besonderen Programme - es ist doch der Sinn von Integration, genau das nicht zu haben."

René Gomis (Zweiter von rechts) sagt, seine Alltags-Probleme verschwänden, wenn er das Sportgelände des TSV 1860 betrete. Gomis sitzt zwischen Saskia Bajin (links) und Viola Oberländer. (Foto: Stephan Rumpf)

Im Laufe des Abends wird klar, dass die Box-Sparte ein Angelpunkt der Integration ist. "Wir sind eine Abteilung mit über 40 Nationen", sagt Ali Cukur. Vermutlich kennt ihn jeder im Raum. Kveton bittet ihn dennoch, sein Leben zu erzählen. Cukur kam 1969 als Neunjähriger aus der Türkei nach Deutschland, er ist also 1960 geboren, und das ist eine Vorlage, die er gerne verwandelt: "Ich bin Sechziger durch und durch." Cukur boxte von 1975 an für den TSV 1860, heute ist er 60 plus zwei Jahre alt und Leiter der Abteilung, aber mit diesem Titel ist er unzureichend beschrieben. Cukur ist das Herz dieser Sparte. Er kümmert sich - unter anderem - als Anti-Gewalt-Trainer um traumatisierte junge Menschen, die aus Kriegsgebieten flüchten mussten. Es ist ein berührender Moment, als ein Mitglied der Box-Abteilung ans Mikrofon geht und beschreibt, wie sich Cukur verhielt, als 2015 viele Flüchtlinge nach München kamen. Cukur habe sie zum Boxen eingeladen und zu den Mitgliedern bei Sechzig gesagt: "Alle sind bei uns willkommen - wem das nicht passt, der kann die Box-Abteilung verlassen."

Oberländer sagt, Sechzig sei für alle offen; Bajin, Nawin, Awata und Cukur betonen, sie seien bei 1860 immer willkommen gewesen; Gomis meint, seine Alltags-Probleme verschwänden, wenn er das Sportgelände betrete, es sei eine "blaue Oase"; und Diakon Oliver Wiek von der Lutherkirche sagt, es sei "wurscht, ob jemand katholisch, evangelisch, muslimisch, dünn, divers oder sonst was ist". Dann zieht er eine Jacke aus und zum Vorschein kommt ein weinrotes Trikot des 1. FC Nürnberg. "Mit diesem Rot kann man hier noch leben", sagt Kveton. Es ist ein Witz. Natürlich dürfte man auch Bayern-Fan sein.

Also alles gut?

Noch einmal tritt der Boxer, der Cukur gelobt hatte, ans Mikrofon und wendet sich an den dunkelhäutigen Gomis. "René, ich will nicht untergehen lassen, dass es bei Sechzig auch fiese Grattler gibt - bist du auch rassistisch beleidigt worden?" Gomis antwortet, es sei ihm bei Sechzig nie passiert; aber Gegenspieler hätten fiese Dinge zu ihm gesagt. Er sei auch zweimal ausgetickt. Man solle aber auf Provokationen nicht mit Gewalt reagieren, sonst gebe man ihnen Raum.

Mohamad Awata spielt übrigens mittlerweile beim SV Heimstetten in der Regionalliga Bayern, aber er blieb dem TSV 1860 verbunden. Er hat neulich ein Trainer-Praktikum bei den Löwen gemacht.

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