Das Publikum zum Mitsingen zu ermuntern, ist nicht immer eine prima Idee, rein künstlerisch betrachtet. Und wenn es sich dann auch noch um so triefendes Schmalzgebäck wie Elton Johns "Can You Feel the Love Tonight" aus "Der König der Löwen" handelt, droht höchste Kitsch-Alarmstufe. Aber nicht hier, nicht an diesem Freitagabend im Prinzregententheater.
Eben haben unten auf der Bühne die beiden Conférenciers, die wunderbar schrägen Glitzervögel Tim Richter und Stefan Siebert, die Alumni oder Alumnae (vulgo: die Ehemaligen) gebeten aufzustehen. In die Ränge des Theaters kommt Bewegung, überall erheben sich junge und nicht mehr ganz so junge Menschen. Und sie packen für den großen Chor ihre Profistimmen aus: "Kann es wirklich Liebe sein, im sanften Abendwind, Harmonie im Namen August Everding mit allem was wir sind ..." Nun, es muss wohl Liebe sein zwischen den "Everdingern" und ihrer Akademie. Ein Gänsehautmoment, selbst für notorische Musical-Hasser.
30 Jahre Theaterakademie August Everding. Es herrscht Klassentreffen-Atmosphäre bei dieser Geburtstagsgala, in der sich die größte Akademie für Bühnenberufe im deutschsprachigen Raum in all ihren Facetten präsentiert. Schauspiel, Oper, Musical, Maskenbild. Vor der umwerfenden Show fallen sich in den überfüllten Foyers des Prinze Leute in die Arme, werfen Luftküsse über Köpfe hinweg. Manche sind wohl gerade noch rechtzeitig angereist und reichen den verdutzten Garderobieren ihre Koffer über den Tresen. Über 300 Ehemalige, wird Akademie-Präsidentin Barbara Gronau später in ihrer Rede verraten, sind zur Feier gekommen, auf der Gästeliste stehen Namen wie Michael A. Grimm ("Rosenheim Cops", "Schwere Jungs"), Oliver Wnuk ("Stromberg") oder Synchronsprecher und Schauspieler Stefan Lehnen, Sebastian Bezzel alias Franz Eberhofer wird via Video grüßen.
300 von insgesamt 1400 in 30 Jahren, kein schlechter Schnitt, wer je ein Klassentreffen organisiert hat, weiß das. Sie sind da, um sich und die Schule zu feiern. Und ein Alumni-Netzwerk zu gründen, das mehr sein soll als eine Whatsapp-Gruppe. Sie, die an Theatern, in Film und Fernsehen wirken, wollen ihre Erfahrungen an die Studierenden von heute weiterreichen, und auch an die Lehrenden. Da ist beispielsweise Lisa Wagner, Abschlussjahrgang 2003, die hier auch schon unterrichtet hat. Wenn sie nicht gerade dreht ( Beate Zschäpe in "Letzte Ausfahrt Gera", "Weissensee", ZDF-Krimireihe "Kommissarin Heller", Doris Dörries "Freibad"), sich Grimme-Preise oder Goldene Kameras abholt oder am Resi das Publikum in "James Brown trug Lockenwickler" um den Finger wickelt. Hohe Erwartungen haben sie alle hier, doch nicht alle schaffen es, oder? "Man braucht ganz viel Glück und muss dieses Glück dann auch umsetzen, du musst abliefern", sagt Wagner, die nie weggezogen ist aus München. Und wenn sie heute auf die Everding blickt? "Jetzt ist alles anders, das Schulsystem, wir waren anarchischer, hippiesker".
Hippietum? Ein Wort, das man mit ihm, mit August Everding, nicht wirklich zusammenbringt, eine gehörige Portion Anarchismus schon. Das wird an diesem Gala-Abend, bei dem auch fleißig für die August-Everding-Stiftung gesammelt wird, mehr als deutlich: Beständig wird dem großen Theatermann gehuldigt, in Film-Rückblenden, in den Reden und Gesprächen beim Staatsempfang. Die Akademie, so Barbara Gronau, sei der "Lebenswunsch" gewesen des 1999 überraschend Verstorbenen. Sie hat er gegen alle Widerstände durchgesetzt und ist dabei den Politikern beharrlich auf den Senkel gegangen. Kunstminister Markus Blume (CSU), der sich in einer anarchischen Anwandlung als rote Socke auf der Bühne präsentierte (sein modisches Zugeständnis ans lässige Künstlerambiente), nannte die Akademie einen "Geniestreich" Everdings, erinnerte an dessen Einfallsreichtum beim Geld-Auftreiben für die Wiedereröffnung des Prinzregententheaters. Eine "Urgewalt", ein Strippenzieher wie er, der fehle heute, da Bayerns Kulturbauten notorisch im Sanierungsstau steckten.
"Macht mal ein bisschen Lärm", hatten die Conférenciers zu Beginn der großen Show gefordert. Und das "Everding, Everding, Everding!" klang dann nach einer höchst lebendigen Ansage. Mit einer Frau wie Barbara Gronau an der Spitze wird diese Akademie ihren Platz im Kulturleben behaupten. Und die Politik auch künftig nicht vom Wickel lassen. Auch wenn Ministerpräsident Markus Söder (CSU) durch Abwesenheit glänzte. "Der hat eine Horrorwoche gehabt und ist ganz ok damit, dass ich das hier mache", entschuldigte Markus Blume seinen Chef. Einer wie August Everding hätte das dem Söder womöglich nicht so einfach durchgehen lassen. Fast möchte man wetten, der Schnellredner aus Bottrop hätte zum Hörer gegriffen oder den Ministerpräsidenten höchstpersönlich in der Staatskanzlei abgeholt.