Allein die Erzählung, wie er den richtigen Ort fand, oder der Ort ihn, nimmt biblische Züge an: Ein Musiker aus Deutschland folgt jahrelang seinem Ruf, 40 Tage lang alleine in einem gläsernen Würfel in der Wüste Klavier zu spielen. Davon hört der König von Oman, Qabus bin Sa'id Al Sa'id, der eine Vorliebe für den Tegernsee und Musiker aus Deutschland hat, und ruft ihn an seinen Hof. Doch der König wird schwer krank, das öffentliche Leben muss stillstehen und der Musiker weiterziehen. Wohin? Namibia habe auch schöne Wüsten, sagt ein Berater, der fürs Fernsehen dabei ist. Nach einigen Stunden im Flugzeug, im Jeep und zu Fuß erreicht man eine sandige Senke zwischen schwarzen und roten Bergen. Unendliche Weite. Der Musiker weiß: Einsamer geht es nicht. Bald kommt er zurück, um den exakten Platz für seine gläserne Bühne zu finden. Er marschiert los. Da braust eine Windhose heran, 60 Meter hoch. Er läuft direkt auf sie zu, lässt sich verschlingen, das Tosen hört auf - und im Sand bleibt der Umriss eines Flügels zurück.
Verrückt, möchte man meinen, ein Märchen. Aber es gibt Filmaufnahmen, und Zeugen, wie Pascal Gühr. Der Münchner war von Anfang an als technischer Leiter des Projektes in der Wüste Namib dabei. Er hatte nun die knifflige Aufgabe, einen 60 000 Euro teuren Konzertflügel in diese karge Landschaft zu verfrachten, ihn mit einem gewächshausartigen drei mal drei mal drei Meter großen Kasten mit einer Super-Membran zu umhüllen, einer Spezialanfertigung von der Firma Hightex aus Rimsting. Darin musste er Kameras und Mikrofone anbringen, die alles störungsfrei festhalten sollten, hier am windigsten, heißesten Platz auf diesem 30 Kilometer weiten Plateau, dem ältesten von Menschen unveränderten Ort der Erde. "Der Stranger ist ein Künstler mit Riesenvisionen, die technisch nicht leicht umzusetzen sind", sagt Gühr.
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Aber wieso Stranger? Wer ist der Fremde? Das verrät der Musiker nicht. Musik brauche keine Namen, kein Gesicht, findet er, es gehe nicht um ihn, es gehe um alles. Jeden Morgen, wenn er nach der Meditation seine kleine Schlafhütte in der Namib verließ und zum Spielen in den Kubus marschiert, zog er eine düstere, amorphe Maske auf, denn jeder Schritt wurde aus der Ferne von Kameras auf den Bergen und Drohnen aufgenommen: Wie ein Wüstenkrieger aus Star Wars sieht er oft aus. Die Texte zu seinen Tagebuch-Filmen, die er ins Internet stellte (www.stranger.org), ließ er von einem Sprecher lesen, um sich nicht zu verraten mit seinem Chiemgauer Akzent. Aha, da hat er der SZ doch etwas enthüllt im Telefon-Interview, dem einzigen, das er überhaupt zum Projekt "Wüstensymphonie" gegeben hat. Ja, er stamme aus dem Chiemgau, bereiste die unzugänglichsten Orte der Welt, lebte lange in München, arbeitete als Musiker, Musical-Komponist und -Produzent, hat Familie. Ja, er verstehe sich auf Inszenierung, sei ein perfektionistischer Kontrollfreak - und entgegnet damit Zweiflern aus der Musikbranche, die argwöhnen, hier laufe alles zu sehr glatt, zu schön, zu sehr nach Film-Script ab.
Vieles kam wie er es geplant hatte: Aus seinem Klavierspiel wurde eine Sinfonie. Er sammelte Steine und formte daraus ein Kunstwerk. Die Kinder aus der Gegend begleiteten immer wieder das Team und entzündeten rechtzeitig in der allerletzten Nacht den steinernen Notenschlüssel im Sand als Leuchtzeichen. Die exakte Zeit im Jahr 2017 war ihm wichtig gewesen, so dass ihn bestimmte Sternkonstellationen begleiteten und in der 39. Nacht der Vollmond schien, um ihn an diesem Kraftort "als Gefäß vollständig zu öffnen".
Für Skeptiker und Klassik-Puristen mag es an dieser Stelle zu abgehoben werden, esoterisch. Aber im Laufe seines schicksalssatten Lebens öffnete sich der Profi-Musiker immer mehr für eine weitere Sicht des klingenden Kosmos, die die Beatles in Indien entdeckten, die Beethoven vielleicht in seiner "Pastorale" in der F-Dur (der Tonart der Natur) spürte, die der ehemalige Rundfunk-Intendant Joachim-Ernst Berendt in seinen Sendungen "Nada Brahma - die Welt ist Klang" und Büchern erforschte. Das ist der Schlüssel, um zu verstehen, warum Stranger - wie Jesus - 40 Tage lang in die Wüste ging, um sich zu finden, und alle und alles zu berühren.
Es fing damit an, dass er mit 27 ein paar Minuten lang klinisch tot war, wieder zurückkam und seine "Gabe" entdeckte: Er könne seitdem die jeweilige Tonart und Melodie jedes Menschen hören. Bei einer spirituellen Seminarwoche hatte er viele intensive Begegnungen, zu viele. "Nach drei Tagen hatte ich das Gefühl, ich werde irre, mein Kopf war voller Stimmen, die wie Radiosender gleichzeitig liefen." Er fand hinter einem Sichtschutz im Saal ein Klavier und spielte sich von allen Melodien frei, nach einer Stunde war er leer, schaute ums Eck, und sah 60 Menschen weinend, berührt am Boden sitzen: "Nicht wegen mir. Sie hatten selbst ihre eigenen Melodien gehört." Von da an wuchs die Vision in ihm, zu erfahren, was er spielen würde, wenn er eine lange Zeit völlig isoliert in sich hineinhört: was die reine Natur in sein Gefäß füllen würde.
24 Tonfolgen flossen in der Namib aus Strangers Fingern, er nennt sie Fraktale. Ganz unbekannt kamen sie ihm nicht vor: Wagner, Debussy, Dvorak aus seinen Klavierschülerjahren geisterten sicher mit herum. Mit diesen Bausteinen komponierte Stranger eine Sinfonie. Dann machte er in Kalifornien mit der Hilfe des dort lebenden Münchner Filmkomponisten David Bertok ein Orchesterwerk daraus. Sie nahmen die "Wüstensymphonie Mankind" in Bratislava auf CD auf. Nun, am 23. Oktober, fünf Jahre nach dem Wüstengang, steht die konzertante Welturaufführung in der Alten Kongresshalle in München an. Das Tschechische Nationalorchester spielt zu den überwältigenden Tier-, Sternen- und Sand-Filmaufnahmen die vier Sätze: "Aufbruch - Aufstieg - Fall - Erwachen".
Viel war geplant. Sogar den Münchner Klavierbauer Julian Motyczka ließ Stranger mehrmals, während er selbst Tausende Steine für seine am Ende 120 Meter große Skulptur schleppte, in den Kubus, um den Flügel zu stimmen (er ließ ihn vom thailändischen König, der wie er auf die menschennahe Natur-Stimmung von 432 Hertz schwört, einfliegen). Er schwitzte bei bis zu 47 Grad, es gab die erwarteten drei Krisen samt Nervenzusammenbruch am 30. Tag, wo er nur auf die Tastatur einhämmerte, und das überwältigende Freispielen seines innersten Selbst in den Tagen danach, wenn man so will eine Erleuchtung (wie sie oft etwa in dieser Phase der Isolation beschrieben wird).
Einiges tauchte urplötzlich auf, Geistes- und Gewitterblitze: Der Jahrhundertregen, der erste Niederschlag in der Senke seit Jahren. Und die immer wichtigere Idee, mit "Mankind"-Regeln zu brechen. Diesmal die des Musikgeschäfts: Die Symphonie ist rechtefrei, jeder darf sie benutzen. Niemand kann Eigentum an Musik haben, sagt Stranger, er selbst sei "nur das Instrument". Weitere Gewohnheiten will er brechen, wenn er bald mit einer Karawane von Gleichgesinnten um die Welt zieht - auf der Suche nach dem Lied, das in allen Dingen schläft. Wenn sie spielen, wo es ihnen gerade einfällt. Nur für sich "in einer Landschaft voller Töne". Oder für Publikum, das - Regelbruch! - nicht ahnt, dass es ein Publikum ist. Aus dem Hinterhalt will er mit seiner Truppe zuschlagen, er nennt solche Spontan-Konzerte schon "Guerillicals".
Und vielleicht sind in der Schar seiner Musik-Jünger auch vier, die nach seinem einsamen "40.1" ins geselligere Projekt "40.2" einstimmen. Er hat das Bild schon vor sich: Fünf Kuben diesmal, aufgehängt in Urwaldbäumen am "wunderbarsten Wasserfall der Welt" in Venezuela, darin er und vier weitere Instrumentalisten, die nur über Töne von Grund auf eine neue Sprache entwickeln: "Bäh" für ja, "bähbäh" für nein, und so weiter. 2024 soll es losgehen, oder eher '25, es muss ja alles perfekt sein. In zwölf Jahren will er das große Weltenklang-Projekt abschließen in einer Eiswüste, wo die Sonne nie untergeht. Weil er auf das Unfassbare aus ist, muss er erst planen, um loslassen zu können.