SZ-Adventskalender:Digital abgehängt

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Elaha (Name geändert) versucht, dem Unterricht in der Flüchtlingsunterkunft zu folgen. Doch auf dem gespendeten Laptop fehlt ein Programm. (Foto: Alexandra Beier/oh)

Flüchtlingskinder wie Elaha aus Afghanistan können dem Unterricht in der Corona-Krise kaum folgen. Die Neuntklässlerin lebt mit ihrer Familie in der Gemeinschaftsunterkunft in Herrsching. Dort fehlen nicht nur Computer und Software, bis vor Kurzem gab es nicht einmal Internet.

Von Jessica Schober, Herrsching

Die Prüfungsaufgaben für die Neuntklässlerin klangen eigentlich ganz lebenspraktisch: Wie kann man die Anschaffung eines Autos finanzieren? Und wie spart man für die Altersvorsorge? Eine dieser zwei Fragen sollte Elaha im Fach Arbeit-Wirtschaft-Technik beantworten, um ihren qualifizierten Hauptschulabschluss zu erreichen. Als Antwort möge sie bitte eine Powerpoint-Präsentation einreichen, schrieb die Lehrerin per E-Mail. Das Problem: Die 16-jährige Elaha, die in Wirklichkeit anders heißt, lebt in der Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Herrsching. Hier gibt es kein Internet. Und auf dem alten Laptop, den Elahas zehnköpfige Familie aus Afghanistan von einer Helferin gespendet bekommen hat, gibt es kein Programm namens Powerpoint. Das Mädchen hat zwei Wochen Zeit, die Aufgabe zu erledigen, sonst droht es ohne Schulabschluss dazustehen. Und das bloß, weil es in der Unterkunft keine IT-Ausstattung gibt, mit der Schulkinder weiter am Unterricht teilnehmen könnten.

Elahas Familie kam 2015 nach Deutschland. Gemeinsam mit etwa 150 anderen Menschen aus aller Welt lebt sie in dem Containerdorf an der Goethestraße. Seit den Ausgangsbeschränkungen durch die Corona-Pandemie herrscht dort Besuchsverbot. Gleichzeitig sollen 25 bis 30 Schulkinder am Unterricht ihrer Schulen teilnehmen. Bloß wie? Während Kinder aus wohlhabenden Familien mit großer Selbstverständlichkeit daheim die E-Mails ihrer Lehrer lesen, auf Youtube Videos anschauen und auf Wikipedia für eine Präsentation recherchieren, können die Kinder aus der Unterkunft nicht einmal mehr in die Schulbibliothek.

Um an öffentlichen Orten im Wlan zu surfen, fehlt es den nur teilweise vorhandenen Laptops schlicht an Akkulebensdauer. Und auf dem Smartphone ihrer Eltern kann die Neuntklässlerin mit den sieben Geschwistern kaum die Anforderungen der Lehrer erfüllen, oft ist auch das Datenvolumen aufgebraucht. Sie wird digital abgehängt in der Corona-Krise. Und das, obwohl es ihr an Lernwillen und Ehrgeiz nicht fehlt. "Frau Christine, wo gibt es Powerpoint?", fragte sie eine Helferin des Vereins "Wir schaffen das" verzweifelt.

Die ehemalige Herrschinger Bürgermeisterin Christine Hollacher sieht ein strukturelles Problem: "Wenn die Schulen schließen, muss der Staat auch dafür sorgen, dass wirklich alle Kinder einen Zugang zum Internet und zur entsprechenden Technik an ihrem Wohnort haben", sagt sie empört. In einem Brief hat sie sich an den Gemeinderat und an Bürgermeister Christian Schiller gewandt: "Jetzt in Corona-Zeiten ist für uns Helfer besonders sichtbar geworden, wie Arm und Reich auch in Herrsching auseinanderdriften. Das betrifft nicht nur die Flüchtlinge - auch andere können sich 'Laptop und Lederhose' nicht leisten." Hollacher forderte einen leistungsstarken Internetzugang für die Unterkunft und eine IT-Pauschale für sozial schwache Familien und Senioren.

In der Zwischenzeit hat der Gemeinderat 400 Euro aus Stiftungsgeldern für die Einrichtung eines Hotspots bereitgestellt. Franz Bissinger vom Herrschinger Helferkreis konnte so immerhin ein passwortgeschütztes Lernnetz für die etwa 30 Schulkinder in der Unterkunft installieren. Jedoch ist die Datenmenge auf 265 Megabyte pro Kind und Tag begrenzt. "Wenn ein Schüler als Hausaufgabe ein bestimmtes Video anschauen soll, dann ist das Datenvolumen damit in den meisten Fällen aufgebraucht", sagt Bissinger. "Es war eine erste Hilfe, aber nach einem halben Tag war klar, dass die Kapazitäten nicht ausreichen werden", sagt Hollacher. Der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung unterstützt die weitere IT-Ausstattung der Unterkunft nun kurzfristig mit zwei Notebooks.

Christine Hollacher setzt sich dafür ein, dass in Zukunft bessere Konzepte erstellt werden, wie geflüchtete Kinder am Online-Unterricht teilnehmen können. "Covid-19 ist wie ein Brennglas. Die Ungerechtigkeiten werden plötzlich sichtbar." Das betrifft auch andere Menschen. In wohlhabenden Haushalten ist es eine Selbstverständlichkeit, dass es Technik und Kompetenzen gibt. Aber bei vielen älteren Leuten und auch Migranten, die schon länger in Deutschland leben, sieht das anders aus. "Auch im reichen Landkreis Starnberg schätze ich, dass etwa zehn bis 20 Prozent der Menschen digital völlig abgehängt sind. Ich will, dass die öffentliche Hand erkennt, dass eine Internetverbindung und eine angemessene IT-Ausstattung heutzutage zur Basisversorgung gehören, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu können. Das muss eine Pflichtaufgabe werden."

(Foto: SZ Grafik)

Schon zum Schuljahresbeginn hatte Hollacher sich erkundigt, wie die geflüchteten Kinder Computeraufgaben erledigen sollen. Von einer Lehrerin hieß es dazu lapidar: "Wir haben doch einen EDV-Raum in der Schule." Hollacher bezweifelte schon vor Corona, ob das genügen würde. Als die Schulen Mitte März schlossen, habe der Helferkreis noch versucht zu improvisieren. "Es ist mir sehr schnell völlig über den Kopf gewachsen, die Kinder dieser zehnköpfigen Familie mit ausgedruckten Übungsblättern zu versorgen", erzählt Hollacher.

Allein für den Viertklässler an der Grundschule musste sie wöchentlich bis zu 30 Seiten ausdrucken und bei der Unterkunft abgeben. Jetzt bekommt er die Aufgaben per Post. Sie macht den Lehrkräften keinen Vorwurf. "Viele Lehrer waren höchstinnovativ, um den Kontakt mit ihren Schülern aufrecht zu halten und haben sich unglaublich bemüht." Teilweise hätten sie sogar privat Prepaidkarten zur Aufstockung des Datenvolumens von Smartphones zu den Aufgaben in die Kuverts gelegt, die einige Kinder der Familie sich inzwischen am Fenster der Schule abholen. Laut Bürgermeister Schiller hat das Schulamt angeordnet, die EDV-Räume nun auch wieder für Schüler an den Nachmittagen zu öffnen.

Elahas Bruder Amar hilft ein EDV-Raum jedoch auch nicht weiter. Der Elfjährige soll nach den Sommerferien in die neunte Klasse der Realschule Herrsching gehen, sein Notenschnitt ist gut, es würde auch fürs Gymnasium reichen. Doch die Anmeldung findet in diesen Zeiten natürlich nicht persönlich statt, sondern online. "Wenn die Eltern dann gesagt bekommen, sie würden doch alle Unterlagen zur Schulanmeldung ihres Sohnes online finden, sie müssten sie bloß herunterladen, ausdrucken und unterschreiben - dann ist das schlichtweg nicht möglich für diese Familie", sagt Hollacher.

Elahas Lehrerin hat schließlich auf die Powerpoint-Präsentation für die Prüfung verzichtet. Elaha könne die Prüfungsaufgabe auch handschriftlich verfassen und vor Ort abgeben. Für die Recherche war das Mädchen jedoch trotzdem auf sich allein gestellt.

© SZ vom 03.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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