Verhaltensökologie:"Die Blaumeise ist recht aggressiv"

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Die kleinen Blaumeisen sind häufig waghalsiger als ihre Artgenossen, die Kohlmeisen. (Foto: IMAGO/imagebroker)

Nicht nur Menschen haben unterschiedliche Persönlichkeiten, sondern auch Tiere. Der Forscher Niels Dingemanse aus Stockdorf untersucht die Meisen in der Region und weiß genau, welche Vögel besonders waghalsig sind.

Von Ann-Marlen Hoolt, Gauting

Im Garten von Niels Dingemanse ist gerade wenig los. Alle Pflanzen, der Rasen, das Futterhäuschen sind mit einer Schneeschicht überzogen. Eines der Hühner pickt erfolglos in den gefrorenen Boden und flüchtet sich dann zu seinen Artgenossen unter das Stalldach. Für Vögel gibt es hier gerade wenig zu holen. Schade, denn eigentlich liebt es der Niederländer, die Tiere zu beobachten, die sich in seinem Garten aufhalten. Bleiben also noch die Tiere, mit denen der Wissenschaftler beruflich zu tun hat. Und das sind einige.

Der 49-Jährige ist Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) in München. Er forscht zu unterschiedlichen Persönlichkeiten von Tieren, insbesondere von Vögeln. Verhaltensökologie heißt dieses Forschungsgebiet, in dessen Zentrum die Frage steht, welchem evolutionären Zweck eine tierische Verhaltensweise dient und wie diese entstanden sein könnte. Dingemanse beobachtet dazu die Blau- und Kohlmeisen im Forstenrieder Park. Hier haben er und sein Team etwa 400 Nistkästen aufgehängt. Sie können so fast allen Meisen im Waldgebiet nachspüren.

Niels Dingemanse von der LMU München erforscht das Verhalten von Tieren. Schon seit vielen Jahren arbeitet er mit den Meisen im Forstenrieder Park. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Dingemanse und sein Team haben die Meisen "beringt", ihnen also kleine Ringe ums Bein geklemmt, mit denen man sie identifizieren kann. So können die Wissenschaftler nachverfolgen, welche Meise wie viele Eier legt, wo sie sich aufhält und wie lange sie lebt. Die kleinen Vögel können an die zehn Jahre alt werden, doch häufig sterben sie bereits in ihrem ersten Lebensjahr.

Der Forschung wegen ist Dingemanse aus den Niederlanden nach Bayern gezogen

Die Arbeit mit den Meisen ist sehr aufwendig. Ende März oder Anfang April beginnt die Brutzeit. Von da an müssen die vielen Nistkästen regelmäßig kontrolliert und die Meisen eingefangen werden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind im Frühjahr und Sommer dafür fast täglich im Forstenrieder Park unterwegs. Wer brütet hier? Wie viele Eier liegen im Nest? Wie entwickeln sich die Küken? Es dauert etwa 14 Tage, bis die neu geschlüpften Meisen ausgewachsen sind. Dann bekommen auch sie einen Ring ums Bein. Wenig später verlassen sie bereits ihr Nest.

Dingemanse untersucht bei seiner Arbeit auch Tiere im Labor, doch die Feldforschung - also das Beobachten der Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum - ist ihm lieber. Sein Großvater hatte einen Bauernhof, sein Vater viele Haustiere. Während der Schulzeit engagierte sich Dingemanse beim niederländischen Jugendbund für Naturstudien. Er ist es gewohnt, von Tieren umgeben zu sein. Außer seiner Familie und den vier Hühnern leben in seinem Haus in Stockdorf noch zwei Katzen. "Es ist toll, dass es hier in der Gegend so viel wilde Natur gibt", freut sich der Verhaltensökologe. "Viel mehr als in den Niederlanden." Seit 2009 lebt er im Landkreis Starnberg, hat zunächst am Max-Planck-Institut in Seewiesen geforscht. Dann übernahm er die Professur an der LMU. Seitdem forscht er nicht nur, sondern gibt auch Seminare für Studierende und betreut deren Abschlussarbeiten.

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Der Niederländer hatte eigentlich nie vorgehabt, nach Deutschland zu ziehen, geschweige denn nach Bayern, wo er sich auch heute manchmal noch mit der Sprache schwertut und mit der Kultur. Aber manchmal führt eben eines zum anderen. Wissenschaftler können sich nicht immer aussuchen, wo sie arbeiten. Dingemanse hat das schon während des Studiums gelernt. Er hat Austernfischer an der Nordsee untersucht, Sperlinge in Israel, Schmetterlinge in Uganda. Und dann natürlich die Meisen, die ihn schon seit seiner Doktorarbeit begleiten. Oder vielmehr er sie.

Der Wissenschaftler ist besonders am Risikoverhalten der Tiere interessiert. Einige Meisen sind waghalsiger als andere. Sie besorgen schnell große Mengen Futter und nehmen dafür auch Gefahren in Kauf. Sie legen auffällig viele Eier, sterben allerdings auch früher als ihre Artgenossen. "Das Prinzip live fast, die young" nennt das Dingemanse und muss dabei lachen. Schnell leben und jung sterben. Der Grundsatz des Rock'n'Roll. Allgemein lacht Dingemanse viel, wenn er erzählt, freundlich und mit niederländischem Akzent.

Diesen waghalsigen Typus, erklärt der Wissenschaftler, gibt es bei Kohl- und Blaumeisen, er ist bei letzteren aber viel stärker ausgeprägt. "Die Blaumeise ist aber insgesamt recht aggressiv", fügt er hinzu und hält seine linke Hand hoch. Da, in die weiche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, haben ihn Blaumeisen schon öfter gebissen, während er versucht hat, ihnen einen Ring ans Bein zu klemmen. "Ich mag Kohlmeisen lieber. Die bleiben ruhig, wenn man sie in der Hand hält."

Meisen beobachten reicht nicht, um ihren Charakter zu bestimmen

Man muss nur einen Blick auf Dingemanses Einrichtung werfen, um zu sehen, dass der Wissenschaftler Vögel auch privat gerne mag. Da hängt ein Poster mit Spechten an der Wand, eine Vogelfigur steht auf der Dunstabzugshaube in der Küche, kleine Holzvögel auf einem Wandregal. Dingemanse trägt sogar einen Ring, auf dem Fußspuren von Vögeln eingraviert sind. Es entspannt den Wissenschaftler, die Tiere zu beobachten. Er versucht dann, die verschiedenen Arten zu identifizieren. "Das ist wie Meditation. Dafür braucht man Ruhe im Kopf", sagt er.

In einem Baum im Garten hat er einen ausrangierten Meisenkasten aufgehängt - Erkennungsnummer 1108. Zwei Kohlmeisen hüpfen darum herum und fliegen dann weiter. Die Brutzeit beginnt schließlich erst im Frühling. Bis dahin beschäftigt sich Dingemanse mit den Hühnern. Wenn er sie füttert, zieht er Klompen an, typisch niederländische Holzschuhe, die vor der Haustür bereitstehen. "Hühner sind interessant, weil da einfach so viel passiert", erzählt er und hält den Tieren eine Handvoll Körner hin. "Die haben auch unterschiedliche Persönlichkeiten." Huhn Brownie drängt sich gerne nach vorn. Es stürzt sich auf die Körner, kurz danach folgen zwei weitere Hühner. Doch ein Huhn hält sich zurück. Baardje, die mit ihren flaumigen Kinnfedern wirkt, als trage sie einen Bart, ist sehr schüchtern. Sie pickt erst los, als schon fast kein Futter mehr übrig ist.

In Stockdorf hält Niels Dingemanse vier Hühner. Wenn er sie füttert, zieht er traditionelle niederländische Holzschuhe an. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Anders als bei den Hühnern sind die unterschiedlichen Charaktereigenschaften von Meisen nicht mit bloßem Auge zu erkennen. Streitet ein Vogel mit einem anderem um Futter, sagt das nichts über dessen Charakter aus. Die Forscher der LMU bestimmen stattdessen Mittelwerte aus verschiedenen Tests, nicht nur bei Meisen. Erst so können sie ablesen, ob sich ein Tier häufiger streitet, als ein anderes. Dann geht das Mutmaßen los. Warum bloß ist das so?

Dingemanse hat da einige Theorien. Seine Forschung zeigt, dass die Verteilung der unterschiedlichen Persönlichkeiten bei Meisen schwankt. Mal gibt es mehr schüchterne, mal mehr waghalsige. Das könnte damit zu tun haben, wie viele Meisen in einem bestimmten Gebiet leben. "Je mehr Konkurrenz es unter den Tieren gibt", überlegt der Wissenschaftler, "desto mehr lohnt es sich für die Meisen, sich zurückzuhalten." Je besser das Umfeld, desto mehr waghalsige Meisen. So also die Theorie.

Um sie zu überprüfen, führen die Forscher spezielle Tests in Parkabschnitten durch, in denen sie absichtlich weniger Nistkästen aufgehängt haben. Das langwierige Forschungsprojekt steht kurz vor dem Ende. Im Herbst werden Niels Dingemanse und sein Team damit beginnen, die Daten aus sechs Jahren Vogelverhalten zu analysieren. Bis das Ergebnis steht, dauert es aber noch. Die Meisen werden bis dahin noch einige Eier legen.

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