Ein letzter Blick auf den auch im Winter fast unverschämt pittoresken Weißenburger Platz, ehe man sich umdreht und in die gleichnamige Straße aufmacht. Dort reihen sich auf gut 500 Metern bis zum Ostbahnhof links und rechts prächtige Bauten des Spätklassizismus und der Neurenaissance, etliche davon denkmalgeschützt, und darin im Parterre Friseure, Buchläden, Boutiquen, Supermärkte und besondere Läden wie "Leanders Western-Article-Centre", der im Schaufenster schwere Gürtelschnallen in Wild-West-Optik feilbietet.
Die Weißenburger Straße ist die Shoppingmeile in Haidhausen. Auch an diesem trüben Dezembervormittag sind reichlich Menschen mit Einkaufstaschen unterwegs - freilich nur auf den Gehsteigen. Dazwischen ist das Gedränge aber nicht minder groß: Von Ost wie West rollen die Autos in die Weißenburger Straße, wo es nur im Stop-and-Go vorangeht und zwei Baustellen die Fahrzeuge regelmäßig zum Rangieren zwingen - wildes Gestikulieren inklusive. Einige Wagen drehen schon die zweite oder dritte Runde um den Block, weil partout keiner der begehrten Parkplätze vor den Läden frei werden will.
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All das wird jedoch bald Vergangenheit sein. Denn die Stadtratsfraktionen von SPD/Volt und Grünen/Rosa Liste haben beschlossen, dass die Weißenburger Straße zur Fußgängerzone werden soll. Die Einkaufsmeile werde so "in ihrer zentralen auch emotionalen Bedeutung für die Bewohner*innen des Stadtbezirks unterstützt und aufgewertet", heißt es im zugehörigen Antrag. Passend dazu prangt auf einem Plakat am Weißenburger Platz in Versalien: "Große Chance für Haidhausen!" Diese Ankündigung bezieht sich auf eine bereits vergangene SPD-Veranstaltung zur geplanten Fußgängerzone, von der später noch die Rede sein wird.
Zunächst aber zum ersten Eindruck, der sich beim Blick auf die vielen Menschen und die fast ebenso vielen Autos in der Weißenburger Straße aufdrängt: Ist doch gar keine schlechte Idee, das mit der Fußgängerzone.
"Wenn ich hier wohnen würde, fände ich das wahrscheinlich auch gut", sagt Frank Motz, ein freundlicher Herr mit weißem Haar, der einen Kunden soeben noch über die Vorzüge verschiedener Bettbezüge aufgeklärt hat. Doch Motz wohnt nicht in Haidhausen, sondern hat hier nur sein Geschäft - "Betten Lenz" in der Weißenburger Straße 15, wo seit siebzig Jahren Matratzen, Decken, Kissen und mehr für die erholsame Nachtruhe verkauft werden. Aus Sicht des Ladenbesitzers stellt Motz erst mal klar: "Ich bin gegen die Fußgängerzone." Schließlich komme seine Kundschaft vielfach mit dem Auto, und auch er selbst sei auf ein Fahrzeug angewiesen. "Die erste Frage, die viele hier stellen, ist: Könnt Ihr Matratzen entsorgen und liefern?", sagt Motz. Von einer Fußgängerzone vor seiner Ladentür hält er also ungefähr so viel wie von der Rathauskoalition, die in seinen Augen "nur Klientelpolitik gegen Autofahrer" betreibt.
Allerdings, sagt Frank Motz abschließend, seien die Meinungen zu dem Thema bei den Geschäftsleuten in der Weißenburger Straße gespalten. "Gehen Sie mal rüber zum Buchladen", rät er. "Da hören Sie eine andere Antwort." Und tatsächlich sagt Thomas Voglgsang - kurze Haare, wache Augen, ein Mann, der gut und gerne erzählt - über die Fußgängerzonenpläne erst mal Folgendes: "Grundsätzlich ist man immer begeistert von so einem Plan, der die Lebensqualität erhöht." Und ja, ergänzt Voglgsang, der hier 2005 seinen im Viertel hoch geschätzten Laden "Buch & Töne" eröffnet hat: "Unser Geschäft würde vielleicht sogar davon profitieren." Doch schon sein Tonfall verrät, dass gleich ein großes Aber kommt, und an dessen Ende resümiert Thomas Voglgsang: "Insgesamt überwiegt bei mir die Skepsis."
Schließlich wisse auch er, dass viele Geschäfte in punkto Kundschaft und Belieferung aufs Auto angewiesen sind. Und dann sei da noch seine größte Sorge: "Dass die Mieten in einer Fußgängerzone noch weiter steigen. Denn dann steht vielen Händlern das Wasser bis zum Hals. Und wir laufen Gefahr, dass die Straße ihren Charakter verliert." Oder kulinarisch ausgedrückt: dass das, was hier serviert wird, irgendwann allzu fad schmeckt. Schließlich seien individuelle Geschäfte, die nicht in der Hand großer Ketten sind, "das Salz in der Suppe" - so hat es Stephan Kippes formuliert, Marktforscher beim Immobilienverband Deutschland (IVD), als dieser unlängst seine "Einzelhandelsfluktuations-Studie" vorstellte. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich eine Untersuchung beliebter Shoppingmeilen in München. Und was dort für die Sendlinger Straße herauskam, ist die wissenschaftliche Unterfütterung jener Sorgen, die Thomas Voglgsang in seinem Buchladen umtreiben.
Zur Erinnerung: 2019 wurde die Sendlinger Straße zur Fußgängerzone. Dies habe zu einer Aufwertung der Einkaufsmeile geführt und viele neue Händler angezogen, heißt es im IVD-Report. Oder in Kippes Worten: "Dort sind die Mieten gestiegen, wodurch es zu Veränderungen im Ladenbesatz kam - und zu einem Anstieg des Filialisierungsgrades. Denn in solche Lagen ziehen verstärkt Ketten und Franchiser, weil sie eher mit den gestiegenen Mieten zurechtkommen." So sind mittlerweile 83 Prozent aller Geschäfte in der Sendlinger Straße in der Hand von Filialisten; vor fünfzehn Jahren waren es noch 60 Prozent.
Wobei an dieser Stelle erwähnt werden sollte: Wer heute ganz unabhängig vom Shoppingangebot durch die Sendlinger Straße flaniert, der wird die früheren Zustände, den Lärm und Gestank der Autos und das Gedränge auf dem Gehsteig eher nicht vermissen. Und so kommt auch in Haidhausen die Idee einer fahrzeugfreien Weißenburger Straße bei vielen Menschen gut an - wie sich etwa bei der erwähnten SPD-Veranstaltung zeigte. Dort wurden am Infostand unter anderem Sitzgelegenheiten in der künftigen Fußgängerzone gefordert, außerdem mehr Grün und Café-Terrassen, wie man sie in jenem Teil der Weißenburger Straße bis zum Rosenheimer Platz findet, wo Autos schon jetzt tabu sind.
Doch lässt sich der nun ins Visier genommene Straßenabschnitt überhaupt in solch ein fahrzeugfreies Idyll umwandeln? Trixi Obermeier ist da skeptisch. "Das wird nie eine richtige Fußgängerzone", glaubt die Inhaberin von "philo_sophie", einem kleinen Modegeschäft in der Weißenburger Straße 23. "Wir haben hier mehrere Supermärkte, die beliefert werden müssen. Und in jedem zweiten Haus gibt's eine Garage. Da frage ich mich: Wie soll das mit der Fußgängerzone funktionieren?"
Eine Antwort auf diese Frage muss das Mobilitätsreferat liefern, das nach dem Stadtratsantrag nun an einem Konzept feilt. Da man "noch in der Sondierungsphase" sei, wolle man sich inhaltlich nicht äußern, teilt die Behörde mit. Bleibt also nur der Antrag der Rathauskoalition, demzufolge für den Lieferverkehr eine Lösung gefunden und die Zufahrt zu Tiefgaragen und Hinterhöfen "in angemessenen Zeitfenstern" ermöglicht werden soll. Weiter heißt es dort: "Der Radverkehr soll in Schrittgeschwindigkeit möglich sein." Und zum Zeitplan: "Bis zu den Sommerferien 2023 soll der erste Abschnitt zwischen Pariser Platz und Weißenburger Platz als Pilotversuch provisorisch als Fußgängerzone ausgewiesen werden."
Für viele Menschen in Haidhausen klingt das wie ein süßes Versprechen, für einige jedoch - und zu ihnen zählt das Gros der Gewerbetreibenden - wie eine bittere Drohung. So ist auch Trixi Obermeier überzeugt, dass viele Läden in der Weißenburger Straße unter dem Wegfall der Parkplätze und der Verbannung von Autos leiden werden. Und das wiederum könnte den "speziellen Charme" der Shoppingmeile bedrohen. Denn zumindest in einem sind sich alle einig - egal ob Befürworter oder Gegner einer Fußgängerzone: Die heimelige Atmosphäre, die bunte Mixtur und das Nebeneinander von Alnatura-Filiale und Western-Centre sollen in der Weißenburger Straße unbedingt erhalten bleiben.