Hilfspfleger vor Gericht:"Ich wollte nur meine Ruhe"

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Der Angeklagte verbirgt sich nicht vor den Besuchern im Gerichtssaal, aussagen will er aber nicht. (Foto: dpa)
  • Der polnische Hilfspfleger steht wegen sechsfachen Mordes, dreifachen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung vor Gericht.
  • Die Staatsanwaltschaft wirft dem 38 Jahre alten Mann vor, er habe seinen Patienten an verschiedenen Tatorten in Deutschland Insulin gespritzt, das als Überdosis tödlich sein kann.
  • Ein siebter Fall können noch zusätzlich als Mord eingestuft werden.

Von Susi Wimmer, München

Es gab einen Moment bei der Vernehmung von Grzegorz W. bei der Münchner Mordkommission, in dem der ermittelnde Beamte den Hauch einer Ahnung davon bekam, welche Dimensionen dieser Fall annehmen könnte: Vor ihm saß der Hilfspfleger und hatte gerade gestanden, dem soeben verstorbenen Rentner Franz Xaver W. aus Ottobrunn zwei Dosen Insulin verabreicht zu haben, um seine Ruhe zu haben.

Und dann fiel der Satz von Grzegorz W., dass Franz Xaver W. bereits sein 31. Patient gewesen sei. "Da wurden wir sehr hellhörig", meinte der Ermittler nun vor Gericht. Tatsächlich steht am Ende der Münchner Ermittlungen eine Anklage gegen den 38 Jahre alten polnischen Hilfspfleger wegen sechsfachen Mordes, dreifachen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung. Außerdem gab die erste Strafkammer am Landgericht München I zum Auftakt des Prozesses am Dienstag den Hinweis, dass noch ein siebter Fall als Mord eingestuft werden könnte.

Grzegorz W. betritt den Gerichtssaal. Scheinbar emotionslos schaut er in die Linsen der Fernsehkameras, verschränkt die Arme um seine beleibte Mitte und wirkt seltsam unbeteiligt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm bei seinen Taten Heimtücke, Habgier und niedere Beweggründe vor. Für Grzegorz W. geht es in diesem Verfahren nicht nur um eine lebenslange Freiheitsstrafe, sondern auch um die Feststellung der Schwere der Schuld und um Sicherungsverwahrung. Ihr Mandant, sagt Verteidigerin Birgit Schwerdt, werde sich momentan nicht äußern. Er habe sich auf ein Leben im Knast eingestellt, sagte W. dem Ermittler der Mordkommission. Und: Er habe niemanden töten wollen, "ich wollte nur meine Ruhe".

Grzegorz W. soll sich für seine Taten im Zeitraum zwischen April 2017 und Februar 2018 besonders schwache Menschen ausgesucht haben. Alte Leute, die schwer krank und teilweise sogar bewegungsunfähig auf seine Hilfe angewiesen oder ihm völlig ausgeliefert waren. In Polen hatte er einen Crashkurs für Altenpflege absolviert, anschließend bewarb er sich bei etlichen polnischen und slowakischen Vermittlungsagenturen als Pflegehilfskraft. Diese Agenturen wiederum vermittelten ihn an diverse deutsche Agenturen.

Nur so ist zu erklären, warum es nie an einer zentralen Stelle auffiel, dass immer wieder Patienten von W. starben oder wegen Unterzuckerung in eine Klinik eingeliefert wurden. Bei den Unternehmen schien sich zudem niemand dafür zu interessieren, dass der Pfleger vorbestraft war. Angeblich, so sagte W. bei seiner psychiatrischen Begutachtung, saß er sieben Jahre im Gefängnis wegen Betrugs. "Dieses ganze Pflegesystem", sagte ein Angehöriger am Rande des Prozesses, "ist skandalös."

Im Jahr 2015 soll W. angefangen haben, in Deutschland als Hilfspfleger zu arbeiten. Die Betreuung geht rund um die Uhr, 24 Stunden, Tag und Nacht. Grzegorz W. löste immer eine andere Pflegekraft ab. "Die wechseln im Zwei-Monats-Rhythmus, anders ist das gar nicht auszuhalten", sagt Sozialarbeiter Claus Fussek, der als Pflegekritiker gilt und den Prozess beobachtet. Die Staatsanwaltschaft wirft W. vor, dass er gar nicht vorgehabt habe, als Pfleger zu arbeiten. Er sei nur darauf aus gewesen, die Patienten zu bestehlen und sie aus Habgier und krasser Eigensucht wegen Nichtigkeiten mit lebensgefährlichen Insulindosen in Arme, Beine, Brust oder Nacken zu töten.

In Spaichingen (Baden-Württemberg) etwa soll der Hilfspfleger im Juli 2017 bei einer 87 Jahre alten Frau angefangen haben und äußerst erbost gewesen sein, weil es im Haus kein Internet gab. Er setzte ihr drei bis vier Mal die Höchstdosis Insulin mit 40 Milligramm, dann ging er ins Bett und schlief. Als er aufwachte, war die Frau tot. Er soll dann das Haus durchsucht und lediglich eine kleine Uhr gefunden haben, die er mitnahm. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Grzegorz W. den alten Leuten Insulin spritzte, damit sie in eine Klinik kamen - oder starben. Nur so sei es ihm möglich gewesen, schnellstens und ohne Strafgebühren aus seinen Arbeitsverträgen zu kommen.

Der Hilfspfleger soll in Hannover einen 66 Jahre alten Mann im Rollstuhl getötet und anschließend die Angehörigen gefragt haben, ob er das Handy und die Wertsachen des Opfers haben könne. In einem anderen Fall soll er erbost darüber gewesen sein, dass er nicht ungestört das Haus seines Patienten durchsuchen und plündern konnte, weil immer Angehörige oder ein Pflegedienst vorbeischauten. Waren alle Wertsachen weggesperrt oder war einfach nichts zu holen, dann setzte er die Insulinspritze und nahm Waschpulver, Klopapier oder Parfüm mit.

Nur weil ein Arzt bei der Leichenschau in Ottobrunn punktförmige Einblutungen in der Mundschleimhaut von Fanz Xaver W. entdeckte, rückten die Todesermittler der Polizei aus. Die Mordkommission sah sich den Fall ebenso an und stieß auf den Pfleger W., der im Haus quasi schon auf gepackten Koffern saß und nach Polen abreisen wollte. Bei seiner Vernehmung entdeckten die Polizisten Ungereimtheiten und einen Insulin-Pen im Gepäck. Schließlich räumte W. die Tat in Ottobrunn ein, er sei gestresst gewesen wegen nächtlicher Rufe des Patienten, die Familie sei aggressiv und beleidigend gewesen. Dann wurde ein ähnliches Verfahren in Weilheim bekannt, ein weiteres in Mühlheim - und die Kripo fahndete mit Foto und Namen des Hilfspflegers nach weiteren Opfern. In ganz Deutschland meldeten sich Angehörige, teils wurden Leichen exhumiert, um nach Einstichstellen zu suchen. Der Prozess ist bis Ende Mai terminiert.

© SZ vom 27.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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