Lockdown:"Da habe ich mich gefragt, was kann ich denn noch außer tätowieren?"

Lesezeit: 4 min

Tätowierer Sebastian Grebhardt muss wie seine Kollegen wegen des Corona-Lockdowns noch immer pausieren. Statt Bilder zu stechen, malt er nun Porträts. (Foto: Stephan Rumpf)

Weil die Studios pandemiebedingt geschlossen sind, leben viele Tätowierer in München von staatlicher Hilfe - oder tauschen Haut gegen Papier.

Von Janek Kronsteiner

An der Schnittstelle von Kunst und Dienstleistung und dann noch ganz nah am Kunden. Seit rund fünf Monaten sind Tätowiererinnen und Tätowierer in der erzwungenen Berufspause. Und das bleibt in Bayern vorerst so: Während Nagelstudios und Friseure wieder öffnen, müssen Tattoo-Studios weiter geschlossen bleiben. Entsprechend groß ist der Frust, denn der Freistaat verbietet als einziges Bundesland die Öffnung. Bei vielen Tätowierern geht es nach den zwei Lockdowns um die Existenz.

Auch Sebastian Grebhardt steht im März 2020 ohne Einkommen da. Dafür mit sehr viel Freizeit. "Da habe ich mich gefragt, was kann ich denn noch außer tätowieren?" Nun malt er Porträts nach Fotografien. Als Andenken oder als Geschenk für die Liebsten. Bisher war die Malerei eher ein Hobby, für das nie genug Zeit war. Geld verdiente er mit dem Tätowieren, im Lockdown kehrt sich das Verhältnis um.

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Grebhardts Porträtstil unterscheidet sich stark vom Stil seiner Tattoos. In seinen Tattoos dominieren klare Linien und satte Farbflächen, beinahe comichaft. Neotraditional nennt man den Stil in der Szene. "Diese Tattoos sind lange haltbar und verblassen nicht so schnell", sagt Grebhardt. Seine Porträts dagegen sind schwarz-weiß, mit weichen Übergängen und oftmals realistisch. Der Stilsprung sei bedingt durch die verschiedenen Oberflächen, erklärt Grebhardt: "Das Medium Haut unterscheidet sich extrem vom Medium Papier. Haut ist ständig in Bewegung, altert und die Muskeln unter ihr spielen auch eine Rolle. Die Leinwand dagegen verändert sich kaum über die Zeit."

Viele Tätowierer und Tätowiererinnen sind selbständig. Nur die wenigsten von ihnen melden sich in der Corona-Krise beim Arbeitsamt; in ganz München sind nur sechs Tätowierer und Piercer erwerbslos gemeldet. Das war auch für Viktoria Fuchs keine Option. Mit dem Tätowieren finanzierte die 22-Jährige ihr Philosophiestudium. Zu Beginn der Pandemie startete sie gerade beim Tattoostudio Kabale-Club in der Schillerstraße am Hauptbahnhof. "Eigentlich waren wir da nur Untermieter bei einem Reisebüro. Doch das ist dann im ersten Shutdown pleite gegangen, und auch wir mussten raus aus dem Gebäude."

Wie viele ihrer Kollegen lebt auch Fuchs im Moment von staatlicher Hilfe. Andere Tattookünstler bitten online um Spenden oder verarbeiten ihre Tattoo-Designs zu Kunstdrucken. Das Verkaufen dieser "Prints" ist für viele der erst Schritt, um das Loch im Geldbeutel irgendwie zu füllen. Für die Tätowiererin Katharina Menne aber kam das nicht in Frage. Vor der Pandemie arbeitete sie im Studio Black Heart-Tattoo in der Nähe des Bonner Platzes. In der Krise musste sie Corona-Hilfe beantragen. "Hätte ich etwas dazu verdient, hätte es Schwierigkeiten beim Beantragen gegeben", erklärt Menne. "Das war mir zu heikel. Deshalb habe ich die letzten viereinhalb Monate rein von meiner ersparten Altersvorsorge gelebt."

Sebastian Grebhardt hat ebenfalls Überbrückungshilfe beantragt. Er möchte aber so schnell wie möglich durch eigene Arbeit Geld verdienen. Im ersten Lockdown halfen ihm die Portrait-Auftragsarbeiten über die Runden. Im zweiten Lockdown seit Oktober aber nimmt er keine Aufträge mehr an. Inzwischen malt Grebhardt nur noch Bilder für sich selbst. "Ich habe im Sommer etwas Geld gespart, weil ich davon ausgegangen bin, dass es einen zweiten Lockdown geben wird. So konnte ich die Zeit anders angehen", erklärt er. Da er aktuell keine Modelle treffen kann, beschränkt er sich beim Malen weiter auf Fotografien, achtet genau darauf, wie auf dem Foto die Gesichtspartien verlaufen. So malt er die Landschaften, wie Grebhardt die Partien nennt, mit dunklem Öl auf die Leinwand. Mal fotorealistisch, mal surreal. Mit ausgewischten Augenhöhlen oder einer Schlucht in der Stirn. Auf Instagram testet er, ob sein neuer Malstil ankommt. Offenbar mit Erfolg: Mehrere Personen wollten seine Gemälde kaufen.

Die Tätowiererin Viktoria Fuchs nimmt im Lockdown immer wieder kleine Jobs an. Mal führt sie Hunde aus, dann illustriert sie ein Poster für eine Band. "Ich wollte auch Prints verkaufen. Aber ich war mit allen meinen Designs nicht zufrieden." Ihr Team vom Tattoo-Studio Kabale Club versucht durch Fanshirts die finanziellen Löcher zu stopfen. Auch Fuchs entwarf ein T-Shirt, das auf der Website des Studios verkauft wird. "Wir haben damit aber kaum Geld eingenommen. Das war eher Ablenkung für mich. Die Situation war generell einfach frustrierend."

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Anders sieht Sebastian Grebhardt die Monate, in denen er nicht Tätowieren durfte. "Rückblickend war es für mich eine total gute Zeit. Ich habe den Shutdown genossen, denn ich konnte aus meinem Hamsterrad entkommen." Grebhardt erfindet seine Karriere neu. Auch nach der Pandemie möchte er seine Ölmalerei mit seinem Job als Tätowierer kombinieren. In seinem alten Tattoo-Studio bei Darkest Gold-Tattoo wird er aber nicht mehr stechen. Er hat beschlossen, nicht mehr in sein altes Studio zurückzukehren. Grebhardts Arbeitsplatz ist jetzt sein kleines Atelier zuhause. Und wenn er möchte, kann er auch dort Tattoos stechen.

Das Studio Kabale Club von Viktoria Fuchs hat im Herbst in der Birkenau neu eröffnet. Der frisch renovierte Raum wird bald wieder zum Tätowieren genutzt. "Es fühlt sich nach den vielen Monaten surreal an, aber ich und meine Kollegen sind bereit", sagt Fuchs. Interessenten gebe es genug, doch noch möchte sie keine Termine vergeben. "Ich fühle mich unwohl, Anzahlungen für Tattoos zu nehmen, wenn ich gar nicht weiß, wann ich sie stechen kann. Aber ein Kunde hat darauf bestanden und hat mir das Geld schon überwiesen." Das ist aber die Ausnahme. Noch zahlt Fuchs ihre Miete mit der Neustarthilfe vom Staat.

Grebhardt deckt einige Kosten inzwischen durch seine Gemälde. Doch wer heute ein Bild bei ihm ersteht, muss damit rechnen, es im Sommer noch einmal zurückzugeben: Mit der Kunst aus der Lockdown-Zeit plant Grebhardt eine kleine Ausstellung. Darin will er mit dem Stuttgarter Tätowierer Markus Giuliano-Stolz erkunden, wie die Tattookunst jenseits vom Kunden funktioniert. Doch die Raumsuche für die Sammlung gestaltet sich schwierig. Noch ist unsicher, welche Räumlichkeit nach dem Lockdown noch Gemälde und Kunst zeigen kann.

© SZ vom 10.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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