Zwei Euro und ein paar Cent, das ist alles, was Irmgard V. einen Tag vor Monatsende auf ihrem Konto hat. Sie habe ja noch 50 Euro im Portemonnaie, sagt die 71-Jährige. Und außerdem komme tags darauf wieder die Rente dazu, 959,04 Euro. Davon gehen dann aber 680 Euro für die Miete weg und 47 Euro für den Strom. Bleiben 232,04 Euro zum Leben. Ohne den einen oder anderen kleinen Job würde das nicht reichen. Aber Irmgard V. klagt nicht, im Gegenteil: "Ich fühle mich überhaupt nicht arm", betont sie. "Ich mache alles, was mir Freude macht und die Menschen zusammenhält."
Sie könnte Grundsicherung im Alter beantragen, doch das will sie nicht. "Mit reduziertem Konsum kann man einiges überbrücken." So ist sie aktiv als Essensretterin, kann nicht nur Lebensmittel vor dem Wegwerfen retten, sondern sich so Ausgaben ersparen. "Ich versuche, so nachhaltig wie möglich zu leben." Kleidung besorgt sie sich gebraucht, auch aus Überzeugung, dass eine nachhaltigere Lebensweise nicht nur gut für sie selbst ist. "Sparen ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber man lernt es." Ab und zu bekommt sie noch den einen oder anderen kleinen Job als Grafikerin, aber wegen Corona wurde es schwieriger. Die Pandemiezeit machte ihr zu schaffen, weil da wegen der Kontaktbeschränkungen ihre Einsätze als ehrenamtliche Demenzhelferin wegfielen und damit auch die Aufwandsentschädigungen, die ein paar Euro zusätzlich für die Haushaltskasse brachten. "Es ist einfach knapp."
Solange die Straßen frei sind von Eis und Schnee, legt Irmgard V. viele Wege mit dem Fahrrad zurück. Rund 300 Euro habe sie in diesem Jahr für Reparaturen ausgeben müssen, da muss der Ersatz für die defekte Gemüseschublade des 13 Jahre alten Kühlschranks noch einige Zeit warten. Zumal sie mit 30 bis 40 Euro gerechnet hat, aber das Ersatzteil tatsächlich knapp 100 Euro kosten soll. Von den 50 Euro im Geldbeutel will sie sich noch vor der jährlichen Preiserhöhung ein paar MVV-Tagestickets kaufen, die sie als München-Pass-Inhaberin verbilligt im Sozialbürgerhaus bekommt. So kann sie zumindest für kurze Zeit noch etwas sparen, bis die alten Tickets ungültig werden.
Ihre Eltern, die fast 100 Jahre alt geworden sind, haben Irmgard V. zu einer sparsamen und asketischen Lebensweise erzogen. Ihr Vater, ein Geologe und Paläontologe, sei ein "Professor aus dem Bilderbuch" gewesen, ein Universalgelehrter in Naturwissenschaften, der seiner Zeit weit voraus war. Er prangerte die Versiegelung der Städte und des Landes an, sah die Folgen der Erderwärmung voraus. In den letzten zehn Lebensjahren ihrer Eltern war Irmgard V. zunehmend gefordert, den Alltag und die Pflege ihrer Eltern in Hamburg zu organisieren. Das kostete viel Zeit und ging zu Lasten ihrer Arbeit als freiberufliche Grafikerin.
Mit ihrem kleinen Erbe konnte sie sich eine Mietwohnung bei der Genossenschaft Wagnis sichern. Ersparnisse hat sie nicht, aber ist dennoch froh: "Da bin ich vor Eigenbedarfskündigung sicher." Im Haus organisiert sie im Gemeinschaftsraum einmal im Monat ein Mittagessen für die älteren Leute, an dem sich die Nachbarn nach Kräften beteiligen. Für den Einkauf gibt jeder, was er sich leisten kann. Mit dem Kochen hat es Irmgard V. nicht so, aber ihr liegt das Organisieren. Sie hat in ihrer Jugendzeit Hockey gespielt, war lange Mannschaftsführerin: "Da habe ich gelernt, die Menschen zusammenzuhalten und zu motivieren."
Und sie ist sehr diszipliniert. Als bei ihr Diabetes festgestellt wurde, hat sie über zwei Jahre hinweg nach einer Schulung ihr Gewicht reduziert - und vor allem auch gehalten. Nun rutschen die Hosen, drei hat sie vorigen Monat so zur Änderung gebracht, dass sie diese erst in diesem Monat abholen und bezahlen muss, wenn wieder Geld auf dem Konto ist.
Einer Nachbarin, deren Krebserkrankung nach zwölf Jahren Metastasen gebildet hat und die sich deshalb einer langen palliativen Chemotherapie unterziehen musste, hat Irmgard V. versprochen, täglich spazieren zu gehen. Gut getan hat das beiden, Irmgard V. kümmert sich nun als Alltagshelferin um die drei Jahre ältere schwerkranke Nachbarin, wofür sie seit Kurzem 125 Euro monatlich von der Pflegekasse bekommt.
Von Herzen wünscht sich Irmgard V., die kranke Nachbarin, für die sie die Booster-Impfung organisiert hat, einmal richtig schön zum Essen einladen zu können. Am liebsten ins Café Eigenleben, "mein Herzensprojekt". Das noch junge gemeinnützige Projekt, das die 71-Jährige nach Kräften mit ihrem Engagement unterstützt, leidet unter der vierten Welle, weil Gäste ausbleiben: "Viele Weihnachtsfeiern wurden abgesagt." Das Café im Uni-Viertel will "junge Leute von heute und gestern" zusammenbringen, einen "Treffpunkt für Kultur, Kurse und Küche wie früher" bieten, Platz für Engagement und generationenübergreifenden Austausch. "Ich hoffe, dass das Café überlebt."
Hans Peter J. hatte eine eigene Firma, heute bekommt er nur noch eine kleine Rente
Ein eigenes Ingenieurbüro hatte Hans Peter J., "aber das ist schon lange her", sagt der 82-Jährige. Wärmemengenmessung war sein Spezialgebiet, "ich bin Messknecht", sagt der hagere Mann und lacht. Er hat dazu Geräte entwickelt, die ließen sich mit den heutigen nicht vergleichen: "Da ist die Messerei, die ich betrieben habe, relativ primitiv." Die Kalibrierung der Geräte sei damals noch eine Tüftelei gewesen. "Aber am Rande der Physik und des Machbaren zu operieren", habe ihm immer Freude bereitet. Und die Neugierde gehe ihm nie aus.
Die Technik der Magnetschwebebahn hat ihn beschäftigt, "da habe ich die meisten grauen Haare bekommen, die ich noch habe". Das Schweben der Bahn über der Trasse zu stabilisieren, "das war von der Regelung her nicht einfach", mit der damals verfügbaren Technik seien das Grenzerfahrungen gewesen, schwärmt er. Seine Firma ist längst Vergangenheit, "mit 40 kommt man nicht auf die Idee, was dann mit 70 ist", sagt er. So hat er nur eine kleine Rente, ist, wie viele ehemals Selbständige, auf Grundsicherung im Alter angewiesen.
Nicht nur das schränkt die Kontakte ein, auch Corona hat dazu beigetragen. Hans Peter J. ist vorsichtig und hat sich, "natürlich", impfen lassen. Dass es da noch immer viele Gegner gibt, greift er spöttisch auf: "Wir haben ja erst vor zwei Millionen Jahren begonnen, von den Bäumen herabzusteigen", da treffe man halt auch Menschen, "die auf dem Boden noch überhaupt nicht angekommen sind".
"Mein größter Wunsch ist, möglichst lange gesund zu bleiben", sagt Hans Peter J., "es gibt noch so viel zu entdecken, was ich nicht weiß, ein spannendes Feld für die Zukunft." Um so mehr aber treibt ihn auch die "große Angst" um, "dass ich dement werde, über 80 steht die Gefahr ja im Raum". Noch aber sei er "zu jeder Schandtat bereit, zu der ich körperlich in der Lage bin". So gesehen, meint er, sei er "relativ jung geblieben". Durchaus unternehmungslustig, aber Corona und Grundsicherung schränken seine Möglichkeiten doppelt ein, von nachlassenden Kräften ganz zu schweigen. Eine alte Freundin in Südfrankreich würde er gerne besuchen, doch vom Reisen ins Ausland hält er derzeit schon allein wegen Corona nichts. So bleibt das Telefonieren, aber das sei nun mal nicht vergleichbar damit, wenn man jemanden in den Arm nimmt. Das Leben für Alleinstehende ist durch Corona noch einsamer geworden. Und Freunde im gleichen Alter sind oft auch nicht mehr mobil.
Menschen wie Hans Peter J. aus der Isolation zu holen, darum bemüht sich Christine Thurner, Leiterin des Quartierbüros Mitterfeldstraße der Stiftung Katholisches Familien- und Altenpflegewerk. Für die Bewohner der Laimer Sozialsiedlung fehlt ein Treffpunkt, ein Raum für Gruppenveranstaltungen. Christine Thurner kümmert sich darum, alten Menschen Hilfen und Besuchsdienste zu vermitteln, organisiert kleine kulturelle Highlights, führt mal in eine Ausstellung, ins Kino oder Theater, organisiert Erlebnisse, von denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch lange erzählen, bezahlt aus Spenden und Stiftungsmitteln. Abwechslung, die den von Einschränkungen des Alters geprägten grauen Alltag durch Erlebnisse auflockert.
Für Hans Peter J. wäre der Besuch des neu eröffneten Deutschen Museums in Nürnberg zusammen mit einem Ingenieurskollegen, der ihn ehrenamtlich besucht und ihn begleiten würde, ohne Zweifel ein solches Highlight. Der 82-Jährige freut sich bei dem Gedanken an den Ausflug mit dem ICE: "Ich bin ein Erkenntnissucher."
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