Verzweiflung sucht man besser woanders. An diesem Streiktag am Hauptbahnhof jedenfalls scheinen die Reisenden mit der Situation gut umzugehen. "Ach, es gibt einen Streik?": Auch solche Reaktionen kommen von Menschen mit Koffern in der zugigen Bahnhofshalle und unten an den S-Bahn-Gleisen. Die Eisenbahngewerkschaft GDL hat ihre Mitglieder zum Streik aufgerufen. Der Personenverkehr sollte von Donnerstag, 22 Uhr, bis Freitag, 22 Uhr, bestreikt werden. Viele Verbindungen wurden gestrichen, die S-Bahnen fahren in größeren Abständen. Am Morgen war die Stammstrecke zusätzlich gesperrt - wegen einer kaputten Weiche.
Vor dem DB-Reisezentrum hat sich eine Schlange gebildet. Zwei Zahnärzte aus Köln, Sven-Hendrik Gnoth und Sabine Floßdorf, sind gut gelaunt - und das, obwohl ihr Zug am Donnerstagabend wegen des Streiks gestrichen wurde und sie kurzerhand Flugtickets für 520 Euro kaufen mussten, um eine Fortbildung zu besuchen. Immerhin bekommen sie ihre Zugtickets erstattet, sagen sie. Zusatzausgaben hatte auch der Franzose Axel Gorrant-Van aus Luxemburg: gut 100 Euro mehr für eine neue Zugverbindung für ihn, seine Frau und die zwei Kinder. Die ursprüngliche Verbindung war abgesagt worden. Doch er nimmt es mit Humor und beschwert sich nur darüber, dass er sein Ticket nun ausdrucken lassen muss, weil er mit der deutschen Bahn-App nicht zurechtkomme.
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Unten im S-Bahnhof steht eine junge Frau mit Kinderwagen unweit einer Anzeigetafel, die für die kommenden zehn Minuten immerhin vier Züge ankündigt. "Wenn es um Gehälter geht, habe ich Verständnis für den Streik", sagt sie. Schließlich sei alles teurer geworden.
Vereinzelt tauchen Reisende auf, schauen auf die Anzeigetafeln, dann auf ihr Handy, und steigen in die nächste S-Bahn ein. Zahlreiche Mitarbeiter des DB-Abfertigungsservice in neongelben Westen stehen an den Gleisen und helfen mit Auskunft weiter. Morgens seien viele Reisende gekommen, da habe er schon einigen Ärger abbekommen, sagt einer der Mitarbeiter. "Aber jetzt ist es ruhig."
Ist der Zeitpunkt richtig gewählt für einen Streik, so kurz nach dem Schneechaos bei der Bahn? Die Frage sei falsch gestellt, sagt der stellvertretende GDL-Bundesvorsitzende, Mario Reiß. "Warum bekommen es die Vorstände nicht mehr hin, dass die Eisenbahn verlässlich ist?", fragt er stattdessen. Früher sei für extreme Wetterlagen mehr Personal und mehr Gerät vorgehalten worden, das sei alles eingespart worden - und nun spüre man die Folgen. Reiß steht mit leuchtend roter Krawatte in einem Hotelsaal unweit des Hauptbahnhofs und spricht zu den etwa 100 anwesenden Streikenden seiner Gewerkschaft.
Die nächste Verhandlungsrunde mit der Deutschen Bahn steht an und die Gewerkschaft will ihre Forderungen durchsetzen: unter anderem eine Lohnerhöhung von mindestens 555 Euro, mehr Geld für Schichtarbeit und eine steuerfreie Inflationszahlung von 3000 Euro. Außerdem fordern sie eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Die Bahn gibt ihrerseits nicht nach, eine Verkürzung der Wochenstunden sei "beim aktuellen Arbeitsmarkt einfach weltfremd", sagte Personalvorstand Martin Seiler kürzlich.
Und so heißt es jetzt: "Bahnverkehr massiv beeinträchtigt". Im Moment, so schildert Gewerkschafter Reiß, seien für viele Lokführer Elf- bis 13-Stunden-Schichten normal, unter anderem auch wegen der vielen Verspätungen der Bahn. Und danach müssten viele noch bis zu 150 Kilometer mit dem Auto nach Hause fahren - denn mit den niedrigen Gehältern könnten sie sich die Mieten in München nicht mehr leisten und müssten außerhalb wohnen. "Die Familien müssen sich überlegen, ob die Arbeit überhaupt noch zu finanzieren ist", sagt Reiß und bekommt Applaus von seinen Unterstützern.
Und die Forderung nach der 35-Stunden-Woche? Scheint wohl eher ein langfristiges Ziel zu sein. Denn die Realität sieht anders aus. Schon die aktuell 38 Stunden, die etwa die Lokführerin Raphaela Sachse in ihrem Vertrag stehen hat, nennt sie "theoretisch". Es gäbe kaum eine Woche ohne "Kannst du einspringen?" und "Kannst du länger bleiben?", erzählt sie. Bis zu 15 Stunden mehr pro Woche seien für die 29-Jährige normal. Trotzdem sagt Sachse: "Es ist mein Traumberuf." Sie wünscht sich bloß bessere Arbeitsbedingungen.