SZ-Serie: Nachtgeschichten:Ein bisschen Weltfriede, ein bisschen Zoff

Lesezeit: 5 Min.

Es gibt fast nur noch Einzelzimmer, wie das von Wolfgang. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Obdachlosenunterkunft in der Kyreinstraße ist für viele Männer so etwas wie die letzte Chance. Sie bekommen dort ein Zimmer und jemanden zum Reden, sogar nachts.

Von Kathrin Aldenhoff

Es wird mit jeder Stunde schlimmer. Die Sätze werden wirrer, die Kleidung wird skurriler, morgens um 4 Uhr trägt Johann Rosenmeier* Pinsel als Federschmuck in einem rot-blauen Stirnband. Morgens um 6 Uhr sagt Alexander Wolf zu seinem Kollegen: Das geht so nicht mehr. Der Eintrag im Pförtnerbuch, den er gerade verfasst hat, ist so lang, wie schon lange nicht mehr. So viel los in dieser Nacht im Haus in der Kyreinstraße. Eine Nacht, die selbst einen so ruhigen und ausgeglichenen Mann wie Alexander Wolf an seine Grenze bringt.

Alexander Wolf hat in dieser regnerischen und kühlen Sommernacht Anfang August Dienst an der Pforte. Von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens sitzt er am Eingang der Obdachlosenunterkunft in der Kyreinstraße 5, ein Haus des Katholischen Männerfürsorgevereins. Seine Hauptaufgabe: für Ruhe sorgen. Im Haus leben fast 50 Männer, der älteste 77, der jüngste 35. Sie alle haben ihre Wohnung verloren, viele auch ihren Job und ihre Familie. Sie haben auf der Straße gelebt, manche jahrelang. Die Männer hier, sie sind Baumaschinenmechaniker, Künstler, Lehrer, Lkw-Fahrer.

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Fast alle haben getrunken, manche tun es immer noch. Manche arbeiten. Fast alle haben psychische Probleme; manche gehen zum Arzt und nehmen Psychopharmaka, manche nicht. Sie alle dürfen hier wohnen. Sie alle sollen nicht zurück auf die Straße. "Unsere Aufgabe ist, dass wir die Leute nicht rausschmeißen", sagt Manfred Baierlacher, der das Haus seit der Eröffnung 1990 leitet. Diese Aufgabe ist nicht immer leicht zu erfüllen.

Es fängt schon chaotisch an. 22.05 Uhr, gerade hat Alexander Wolf die Pforte von seinem Kollegen übernommen, hat das Radio von Smooth Operator auf ein Klavierkonzert umgestellt und Teewasser aufgesetzt, da kommt der Kollege zurück, mit einem ehemaligen Bewohner. Er hat ihn eben getroffen, der Peter Scholl* wollte in der Tiefgarage schlafen. Ob er hierbleiben kann? Das müsste der Chef erlauben.

Scholl steht am Fenster der Pforte, einen schwarzen Rucksack über der linken Schulter. Alexander Wolf telefoniert, Scholl schwankt leicht, vielleicht vom Gewicht des Rucksacks, vielleicht von zu viel Bier. Es dauert, Scholl hat keine Geduld mehr, "leckt mich doch am Arsch", sagt er und geht, raus auf die Straße. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Alexander Wolf in dieser Nacht beleidigt wird.

22.35 Uhr, Alexander Wolf macht den ersten von vier Rundgängen durchs Haus. Fünf Stockwerke, gelbe Wände, Pflanzen im Treppenhaus, lange Flure, grün gestrichene Türrahmen. Aus einem Zimmer im ersten Stock singt eine Frauenstimme, Oper im Radio. Zweiter Stock, Alexander Wolf schaut in die Gemeinschaftsduschen und in die Toiletten. Ob noch genug Klopapier da ist. Ob da einer liegt, der Hilfe braucht.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Die Obdachlosenunterkunft steht in der Kyreinstraße.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Gerade abends geht es oft chaotisch zu.

Dritter Stock, eine Zimmertür ist blau bemalt. Die Tür gegenüber geht auf, Johann Rosenmeier - drahtige Figur, wache Augen, 66 und mehr Zahnlücken als Zähne - kommt heraus, eine Schachtel Zigaretten und ein Glas in der Hand. Er nennt Alexander Wolf seinen kleinen Bruder und zieht einen blauen Edding aus der Hosentasche. Nach einigem Hin und Her darf er ein paar Punkte auf die rechte Hand des Pförtners malen - ein Kompromiss, eigentlich wollte er dessen Stirn bemalen.

Rauf in den vierten Stock, die Tür von Zimmer 42 fällt auf. Love, Frieden, Sorry - Klebestreifen, mit Edding in Großbuchstaben beschrieben, die ganze Tür voll damit. Wolfgang - klein und schmal, verstrubbeltes graues Haar, große Augen - öffnet die Tür. Seit mehr als zehn Jahren lebt er im Haus. "Mir gefällt's hier", sagt Wolfgang, er will, dass nur sein Vorname in der Zeitung stehen soll. Kleiderschrank, Kühlschrank, die Wände: überall Klebestreifen, überall Worte. Ab und zu gibt's Zoff, daran hat er sich gewöhnt. Und manchmal ist er der Grund dafür, weil er seine Botschaft - Love, Liebe, Frieden, Sorry - durch die Nacht schreit.

Wolfgang sitzt auf seinem Bett, hat einen Stuhl davorgestellt, darauf: ein voller Aschenbecher, ein Plastikbecher voll Bier, Zigaretten. Unter dem Stuhl liegen leere Bierflaschen aus Plastik. Das Fenster steht weit offen, "ich glaube an den Weltfrieden", sagt Wolfgang und bittet darum, das aufzuschreiben. Seit 30 Jahren ist er erwerbsunfähig, aus psychischen Gründen. Heute ist er 59. Was er so macht? "Essen, trinken, rauchen, spazieren gehen."

Drei von vier Männern, die im Haus in der Kyreinstraße leben, sind psychisch krank. Nicht alle sehen das auch selbst so. Jeder Bewohner hat einen Sozialarbeiter als Ansprechpartner, sie sind tagsüber im Haus. Eine Ärztin kommt regelmäßig für eine Sprechstunde, alles freiwillig. Manche Männer sind in therapeutischer Behandlung. Und manche schaffen es, irgendwann in einer eigenen Wohnung zu leben.

Alexander Wolf sitzt meist nachts an der Pforte. (Foto: Stephan Rumpf)

23.20 Uhr, Alexander Wolf sitzt wieder an der Pforte. Der 33-Jährige arbeitet seit seinem Zivildienst im Haus an der Kyreinstraße, am liebsten in der Nachtschicht, dann sieht er seine Kinder tagsüber. Johann Rosenmeier kommt die Treppen runter, er hat eine Weste übergezogen und eine Kappe aufgesetzt. Er steht vor dem Fenster an der Pforte und redet und redet. Alexander Wolf sitzt auf einem Bürostuhl, das Kinn in die linke Hand gestützt, ein Bein auf das andere gelegt, unterhält sich mit ihm über Trotzkis Bart und lacht mit ihm über die Idee, dass Jesus unter dem Decknamen Karl lebt.

"Ich höre den Männern zu, denen sonst keiner mehr zuhört", sagt Alexander Wolf, der Theologie studiert hat. Auch wenn sie von der drohenden Apokalypse reden oder davon, dass die Flüchtlinge schneller Wohnungen bekommen als sie. Dass er der Meinung ist, der Weltuntergang stehe nicht kurz bevor und dass es keine Lösung sei, auf Schwächere zu schimpfen, lässt Alexander Wolf sanft einfließen ins Gespräch.

Es gibt gute Nächte in der Obdachlosenunterkunft, die sind ruhig. Dann sagt Alexander Wolf "Hallo", fragt, wie es geht und wünscht eine gute Nacht. In anderen Nächten verhindert er eine Schlägerei. Manchmal brüllt ein Mann nachts, manchmal brüllt ein Fernseher, manchmal stampft einer auf den Boden, führt einer laute Selbstgespräche. Wie die Nachtschicht wird, das weiß vorher keiner.

Nur eines wissen sie sicher: Jede Nacht kommt Abraham mit der letzten U-Bahn, den Einkaufswagen mit Bananenkisten und Pfandflaschen beladen. 1,90 Meter, lange weiße Haare, blaue Augen, schwarzes Stirnband, die Brille baumelt vor der Brust, ein breites Lächeln, der Geruch nach Alkohol und Schweiß. Abraham, den Namen hat er sich selbst gegeben. 25 Jahre hat er auf der Straße gelebt, seit elf Jahren ist er hier. "Es geht darum, die Liebe Gottes zu finden", sagt er. Ein Verkünder Christi, der abends am Marienplatz sitzt und Bier an Touristen verkauft. "Weltliche Geschäfte", von irgendwas muss man ja leben. Er selbst trinkt lieber Wein.

Um drei Uhr nachts schreit ein Mann, laut, wild. Alexander Wolf läuft auf die Straße, niemand da. Er geht durchs Haus, die Flure entlang, horcht - nichts. Ruhe. Nur Johann Rosenmeier macht immer wieder Trubel. Um drei Uhr trägt er an der linken Hand einen Plastikhandschuh, am rechten Handgelenk silbernes Gaffa Tape, nennt Alexander Wolf einen Spießer, redet.

Sie machen sich Sorgen um ihn, er will nicht zum Arzt, dabei wäre das so wichtig. Seit zehn Jahren lebt Rosenmeier im Haus. Er hatte es geschafft, hatte nicht mehr getrunken. Seit Kurzem trinkt er wieder. Warum weiß keiner. Der Alkohol allein ist nicht das Problem: Seine Alkoholwerte, die er an der Pforte ins Messgerät pustet, sind meist niedrig. Der höchste an diesem Tag: 0,3 Promille. Damit dürfte er Auto fahren.

Und trotzdem schläft er nicht, redet wirr, nennt Alexander Wolf am Ende der Nacht "Arschloch". Es ist der Moment, in dem es Alexander Wolf reicht. So geht es nicht mehr, das sieht auch sein Kollege, der um sechs Uhr die Pforte übernimmt. Sie werden das weitergeben, an die Sozialarbeiter, an den Chef. Was dann passiert? Mal sehen. Rausschmeißen werden sie ihn nur, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Den Männern ein Zuhause geben, das ist schließlich ihre Aufgabe hier.

* Name von der Redaktion geändert

Wer die Menschen kennenlernen möchte, die im Haus an der Kyreinstraße leben, kann sich für zwei Stunden an die Pforte setzen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Ein Mitarbeiter des Hauses ist dabei. Ansprechpartner ist Manfred Baierlacher, Tel. 72989945, manfred.baierlacher@kmfv.de

© SZ vom 21.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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