SZ-Serie: Nachtgeschichten:Eine wacht

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Manche Mädchen melden sich selbst beim Jugendamt, lassen sich in Obhut nehmen, andere bringt die Polizei. (Foto: Robert Haas)

In der Schutzstelle leben Mädchen, die geschützt werden müssen. Vor anderen, vor sich selbst. Und deshalb ist eine Frau immer für sie da. Wenn nachts alle schlafen, ist sie wach.

Von Kathrin Aldenhoff

Es ist die Hitze. Ganz bestimmt, das sagen sich die Frauen, Kolleginnen, die um Mitternacht im Dunkeln auf der Bierbank sitzen und rauchen. Der bisher heißeste Tag des Jahres, da kann so was schon mal passieren, da kann es schon mal eskalieren, wie sie das hier nennen. So, dass um elf Uhr nachts zwei Polizisten im Haus sind und eine Mutter, die hier eigentlich gar nicht hingehört. Dafür aber zwei Mädchen zu wenig. "Nicht weinen, durchhalten", sagt eine zur anderen.

Sie kennen sich hier aus mit Situationen, die eskalieren. Sie haben das öfter. In der Mädchenschutzstelle der Inneren Mission leben acht oder neun junge Frauen für Tage, Wochen, manchmal für Monate zusammen. Alle Mädchen wurden vom Jugendamt in Obhut genommen. Das heißt, dass sie im Moment nicht in ihren Familien leben dürfen.

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Die Mädchen sind hier, weil ihre Eltern gewalttätig sind. Weil Vater und Mutter sie vernachlässigen. Weil ihre Eltern mit ihnen überfordert sind. Die Mädchen sind hier, weil sie vergewaltigt wurden. Weil sie von ihren eigenen Familien bedroht werden. Die Mädchen sind hier, weil sie angekündigt haben, sich umbringen zu wollen oder es schon mal versucht haben.

Sie leben nun auf Zeit in diesem Haus mit dem großen Garten. Mädchen in der Pubertät, zwischen zwölf und 17 Jahren. Viel Make-up, lange künstliche Fingernägel, aber auch ungeschminkte Gesichter, Kichern. Und vor allem: Zigaretten.

Das Haus der Mädchenschutzstelle hat drei Etagen, im Erdgeschoss sind die Gemeinschaftsräume und das Büro der Sozialpädagoginnen; es befindet sich direkt neben dem Eingang. Die Zimmer der Mädchen sind im ersten und zweiten Stock. Vor der Haustür der Mädchenschutzstelle stehen ein Plastikstuhl, eine Bierbank und ein Aschenbecher.

Es ist 20.40 Uhr, zwei Mädchen sitzen dort und rauchen. "Wollt ihr Eisgeld, ja oder nein?", fragt Bettina Klein. "Ja", rufen sie, folgen der Sozialpädagogin ins Büro. Bettina Klein, Locken, runde Brille, großes Herz, hat heute die späte Schicht. Um 23 Uhr wird ihre Kollegin Nina Bauer* übernehmen und die ganze Nacht bleiben, bis 8 Uhr morgens.

Die Mädchen fläzen sich aufs Sofa, Lisa*, 16, in taillenhoher Jeans und bauchfreiem Top, Jaqueline, 17, in Leggings und langem Shirt. Sie reden. Über die Eissorten, die sie holen werden. Und darüber, dass die Polizei vielleicht kommt, weil Franzi, die auch in der Schutzstelle wohnt, ihrer Mutter gesagt hat, dass ihr Klamotten geklaut wurden. Und zwar von einem anderen Mädchen. Deshalb hat Franzis Mutter die Polizei gerufen.

"Es eskaliert", hatte Bettina Klein vor wenigen Minuten zu einer Kollegin gesagt. Im Moment ist es friedlich, Lisa zeigt Bettina Klein grüne Blätter im Sonnenlicht, die Bodenfliesen in der U-Bahnstation, wo sie immer umsteigt, S-Bahn-Gleise. Bilder, die sie mit ihrem Smartphone gemacht hat. Jaqueline sagt, ihr wurde vor Kurzem ihre Musikbox geklaut, 90 Euro, da hätte keiner etwas gemacht, da sei keine Polizei gekommen. Dann gehen die beiden zur Eisdiele.

20 Minuten später holen sich die nächsten beiden Mädchen ihr Eisgeld. "Ihr seid genau um 20 vor zehn hier, ohne Verspätung", sagt Bettina Klein. Die Mädchen nicken. Fünf Minuten nachdem sie gegangen sind, klingelt das Telefon. Wie viele Kugeln sie haben dürfen, eine oder zwei? Zwei, sagt Bettina Klein, legt auf. Und lächelt.

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"Wir haben mit Kindern in Not zu tun. Mit Biografien, die wir uns kaum vorstellen können", sagt Bettina Klein. "Wir sind immer auf der Seite der Kinder. Die Kinder haben alles richtig gemacht. Ihr Verhalten ist eine Reaktion. Die Fehler machen die Eltern, die Gesellschaft." Wie sie mit den Mädchen umgeht? Autorität ja, aber keine Macht, sagt sie. Locker und flexibel, mit viel Humor. "Wir dürfen nie vergessen: Die Jugendlichen leben hier. Wir arbeiten hier nur."

Viele Mädchen sind mehrmals hier. Bei ihnen lief es in der Kindheit schon schief und es ging dann so weiter. Raus aus der Familie, dann ein neuer Versuch zu Hause, der scheitert, wieder raus aus der Familie, das Vertrauen in andere: weg. Keines der Mädchen hat jemals ein Buch vorm Einschlafen vorgelesen bekommen, sagt eine Mitarbeiterin. "Jugendhilfeaffin" nennen sie diese Jugendlichen hier. Oder Bumerangmädchen.

Bettina Klein (hier bei einer nächtlichen Übergabe) und ihre Kolleginnen sind für die Mädchen da: Hier arbeiten ausschließlich Frauen. (Foto: Robert Haas)

Franzi ist eine von ihnen. Die 14-Jährige war schon in vielen Jugendhilfeeinrichtungen, überall flog sie raus. Sie kam erst vor zwei Tagen hier an; dass sie bald wieder gehen wird, weiß sie noch nicht. Sie hat heute gezündelt, Deospray und Feuerzeug, eine trockene Hecke. Passiert ist nichts, aber es gibt ein Video davon, und das finden sie hier gar nicht witzig. Franzi muss also ausziehen, aber das wird sie erst am nächsten Morgen erfahren. Damit zumindest eine Chance auf eine ruhige Nacht besteht.

"Wir haben hier keinen Erziehungsauftrag", sagt Melanie Scharf. Sie leitet den Evangelischen Jugendhilfeverbund München der Inneren Mission und ist damit die Chefin der Mädchenschutzstelle. "Hier geht es darum, dass die Grundbedürfnisse der Mädchen erfüllt sind. Dass sie geschützt sind, dass sie etwas zu essen bekommen und ein Bett haben, in dem sie schlafen." Sind die Mädchen gesund, wie ist ihr körperlicher Zustand, sind sie vielleicht schwanger? Solche Sachen. Alles andere kommt später.

21.40 Uhr, Janina, schmale Figur, lange dunkle Haare, 14 Jahre alt, steht in der Tür zum Büro. Sie wolle einem Mädchen eine Tüte mit Sachen bringen, ob sie kurz nach vorne zur Straße gehen dürfe. "Du hast vier Sekunden", sagt Bettina Klein. Janina geht zur Tür hinaus, um die Ecke, Bettina Klein steht auf, geht hinterher, da ist sie schon weg. Sie geht noch vor zur Straße, das Mädchen ist nirgendwo zu sehen - abgehauen. "Ich hab's geahnt", sagt sie.

Die Mädchenschutzstelle ist keine geschlossene Einrichtung. Die Mädchen sind freiwillig hier. Bettina Klein und ihre Kolleginnen dürfen sie nicht festhalten, nicht einmal anfassen. Wenn die Mädchen gehen wollen, dann tun sie das. Die Betreuerinnen melden sie bei der Polizei als vermisst, normalerweise nach 24 Stunden. Wenn das Kind besonders gefährdet ist, schon früher. Sie machen oft Vermisstenmeldungen.

Bettina Klein geht zurück ins Büro, nimmt sich eine Zigarette, geht wieder raus und setzt sich auf die Bierbank. Nicht die am Haus, die am Garten, mit Blick zur Straße. "Weil mich das so ärgert", sagt sie, raucht. "Hier seh' ich auch, ob die Polizei kommt." Die Polizei, die Franzis Mutter wegen des Diebstahls gerufen hatte. Bettina Klein raucht, ärgert sich, grübelt. Wenn Janina bloß nicht zu ihrer Familie geht.

Janina ist eines der Mädchen, die anonym hier untergebracht sind. Das gibt es immer öfter. Keiner außer dem zuständigen Mitarbeiter im Jugendamt weiß dann, wo die Jugendlichen leben, auch nicht die Eltern. Bei Janina ist der Vater der Grund dafür. Er saß wegen Mordes im Gefängnis und ist jetzt wieder frei. Er hat Janina bedroht. Aber alle Kinder haben eben nur einmal Eltern. Und die lieben sie. Bettina Klein drückt die Zigarette aus und geht ins Haus. Sie muss die Weckliste machen.

"Wir wollen die Mädchen stärken", hatte ihre Chefin Melanie Scharf vorher in einem Gespräch erklärt. "Ihnen zeigen: Ich darf Frau sein und mein Leben leben." Auch wenn es nicht das ist, was ihre Familie für sie vorgesehen hat. Unter Umständen helfen sie den jungen Frauen, sich woanders eine neue Identität aufzubauen.

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Bettina Klein wählt Janinas Handynummer. Sie geht nicht ran. Im Wohnzimmer wischt ein Mädchen den Esstisch ab und bringt einen Pizzaroller ins Büro. Bettina Klein legt ihn zwischen PC und Drucker, die Mädchen dürfen nicht an scharfe Gegenstände kommen. Sie ruft eine Kollegin an, fragt, ob Janina bei ihr in der Einrichtung ist. Ist sie nicht. In der Küche streiten drei Mädchen, weil eine von ihnen eine Pfandflasche weggeschmissen hat.

22.10 Uhr, Jaqueline sitzt mit einem anderen Mädchen vor der Tür und raucht. Es ist dunkel geworden, aber immer noch heiß. Sie trinken Wasser mit Eiswürfeln aus großen Tassen. Bettina Klein fragt herum, wer wann aufstehen muss am nächsten Tag. "Bettina, die Polizei ist da!", ruft eine. "Ist nicht wahr", sagt die. Zwei Polizisten kommen um die Ecke, der eine fragt: "Worum geht es eigentlich?" Franzi und ihre Mutter erzählen ihnen vom Diebstahl.

Ein paar Minuten später kommt Nina Bauer für die Nachtschicht. Bettina Klein und sie machen eine Übergabe im Büro. Sie schließen die Tür, die sonst immer offensteht, und auch das Fenster, die Mädchen sollen nicht zuhören. Janina ist weg, Franzi macht Ärger, morgen muss sie gehen, erzählt Bettina Klein ihrer Kollegin, und auch die Details: das Video vom Zündeln, der Polizeieinsatz.

Doch erst mal die Nacht überstehen. Die Sorge, dass Franzi durchdreht, wegen der gestohlenen Sachen. Wegen des Gesichtsverlusts, weil sie zugeben musste, gezündelt zu haben. Die Angst, sie könnte versuchen sich umzubringen. Sie hat das schon mehrmals angekündigt. "Schwierig." "Schwierig." "Wir kriegen das hin." "Wir kriegen das hin."

Neun Namen, neun Geschichten, neun Tagesabläufe, die sie besprechen. Schule, Ausbildung, ein Mädchen ist nach dem Ausgang nicht zurückgekommen, Jaqueline soll in eine andere Einrichtung ziehen. Das ist für die meisten hier das Ziel: eine betreute Wohngruppe.

23.40 Uhr, die Polizisten gehen, sie haben die gestohlenen Sachen gefunden. Franzi und ihre Mutter verabschieden sich, Bussi, hab' dich lieb, gute Nacht. Wo ist Janina, fragt Franzi. Nicht da, antwortet Bettina Klein.

0.05 Uhr, Bettina Klein und Nina Bauer sitzen auf der Bank am Garten und rauchen. "Janina hat soziale Kontakte, da wird sie hingehen", sagt Nina Bauer. Bettina Klein nickt. "Ich mach' jetzt gleich eine V-Meldung." Sie drücken die Zigaretten aus, im ersten Stock duscht ein Mädchen. Bettina Klein geht nach Hause, eine Stunde später als geplant. "Eine ruhige Nacht", wünscht sie zum Abschied. Das sagen sie hier alle: ruhige Nacht, nicht gute Nacht.

Drei Mal ruft Nina Bauer bei der Polizei an, bis eine Polizistin um 0.40 Uhr ihre Vermisstenmeldung entgegennimmt. "Das sind diese heißen Nächte", sagt die Sozialpädagogin. Da hat die Polizei viel zu tun. Den Ventilator hat sie ausgeschaltet, das Fenster ist wieder gekippt, die Tür steht offen. Grillen zirpen, ansonsten: Ruhe. Die Mädchen schlafen.

Nina Bauer wird die nächsten acht Stunden wach bleiben, wird für die Mädchen da sein, wenn sie Hilfe brauchen. Wird im Büro sitzen, das einzige hell erleuchtete Fenster im Haus, und warten, ob die beiden vermissten Mädchen wiederkommen.

Sie liebt ihren Job, wollte nie was anderes machen. Aber nach einer Schicht braucht sie zwei Stunden und ihre Badewanne zum Runterkommen. Mehr als 100 Mädchen jedes Jahr, und jede einzelne Geschichte ist schlimm. Ein Mädchen wäre als Baby beinahe verhungert. Eine junge Frau hat im Streit mit ihrer Mutter ein Küchenmesser genommen und gedroht, sich umzubringen. Viele Mädchen verletzen sich selbst, oft am Bauch und an den Oberschenkeln, da sieht es keiner. "Arme Mädchen", sagt Nina Bauer.

Zwei Mal wird sie in dieser Nacht mit ihrem Schlüssel jede einzelne Zimmertüre aufsperren. Sie wird nach den Mädchen sehen, die Türe wieder verschließen, so dass keine andere hineinkann. Von innen sind die Türen trotzdem zu öffnen. Alle Mädchen schlafen ruhig. Die Aufregung, die Hitze.

Der Wetterbericht für den nächsten Tag: Es soll wieder heiß werden.

*Die Namen der Mädchen und der Mitarbeiterin aus der Nachtschicht sind verändert.

© SZ vom 12.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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